Hugo Portisch über Geschichte

Hugo Portisch im Gespräch mit der freizeit-Redakteurin
„Österreich II“ kommt frisch restauriert ins Fernsehen zurück. Und damit auch Hugo Portisch, der „Geschichtslehrer der Nation“. Im Gespräch erzählt er, was man aus der Geschichte lernen kann, warum er mit 86 Jahren geistig topfit ist und weshalb er jedem das Schwammerlsuchen als Hobby empfiehlt.

freizeit: Herr Portisch, Geschichte ist in der Schule selten das beliebteste Fach. Wie war das bei Ihnen? Waren Sie schon immer geschichtsinteressiert?

Hugo Portisch: Bei mir war es mehr das Interesse für Journalismus als für Geschichte. Wir waren ein Journalistenhaushalt. Ich wollte aber gar nicht in die Fußstapfen meines Vaters treten und Journalist werden, sondern ganz einfach in die Welt hinaus. Das war aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht so leicht.

Trotzdem sind Sie Journalist geworden.

Ich musste für mein Studium Geld verdienen. Dazu habe ich einen Job in einer Wiener Redaktion angenommen, bei dem ich 90 Schilling pro Monat verdient habe. Das hat für ein Untermietzimmer, die Stadtbahn und ein Mittagessen in der Werksküche gereicht. Dort gab es ohnehin immer nur eine Suppe aus Trockengemüse.

Offenbar hat Ihnen die Suppe nicht geschadet. Sie sind 86 und topfit.

Wenn einem etwas Freude macht, geht alles. Und der Journalismus macht mir nach wie vor viel Freude. Der schönste Beruf, weil er für alles offen ist und alles ermöglicht. Wenn Sie sagen, Sie möchten die Königin von England interviewen, können Sie das zumindest versuchen.

Hatten Sie jemals das Vergnügen?

Prinz Philip habe ich zu meinen ORF-Zeiten einmal im Buckingham Palace interviewt.

Ein großer Erfolg Ihrer ORF-Zeit, die restaurierte Version von „Österreich II“, ist ab 26. Oktober auf ORF III zu sehen. Sie haben alle Moderationen neu gesprochen. Hat Sie die Beschäftigung damit auch fit gehalten?

Vielleicht ist es umgekehrt. Wer fit ist, tut was. Es gilt allgemein, dass das Gehirn nicht ruhen darf. Im neuen Gedichtband meiner Frau „Zwei weiße Schmetterlinge“ ist das ganz klar ausgedrückt. Wer jung bleiben will, muss sein Gehirn beschäftigen. Auch Marcel Prawy hat zu mir gesagt: „Je älter du wirst, desto mehr musst du arbeiten, um jung zu bleiben.“ Und so ist es.

Glauben Sie, die jüngere Generation, die nicht mit Ihnen, sondern mit Facebook und Twitter aufgewachsen ist, kann sich für „Österreich II“ auch begeistern?

Ich hoffe es. Man kann so viel daraus lernen. Am 4. April 1945 galt die Schlacht um Wien als beendet. 14 Tage nach dem letzten Schuss hatte man in Wien die SPÖ, die ÖVP und den ÖGB gegründet, die Renner-Regierung gebildet und das Wiener Rathaus war wieder aktiv. Jetzt bitte ich Sie: Was haben die in zwei Wochen aus dem Boden gestampft, mit welcher Tatkraft und welcher Energie? Wenn man sich die letzten vier Jahre unserer Regierung anschaut, kann man nur sagen: Kinder, nehmt’s euch ein Beispiel!

Was können die Jungen daraus lernen?

Was alles möglich ist und wie leicht wir es heute im Vergleich hätten. Wir könnten alles machen, wir müssen es nur tun! In der Ersten Republik hatten noch alle Angst voreinander. Die Christlichsozialen hatten die Heimwehr, die Sozialdemokraten den Schutzbund und beide haben letztendlich Krieg miteinander geführt. Das hat man in der Zweiten Republik gelernt: „Wir müssen zusammenhalten und tun!“ Das ist 1945 innerhalb von 14 Tagen geschehen. Eine große Geschichtslehre. Für mich ist das die Botschaft aus „Österreich II“. Sie passt gut in unsere Zeit.

Die Aufarbeitung der Geschichte der Zweiten Republik war geradezu detektivisch. Es gab, wie sich herausstellte, kaum Bildmaterial. Wie gelang es Ihnen, die Doku-Reihe auf die Beine zu stellen?

Als der damalige ORF-Generalintendant Gerd Bacher Sepp Riff und mich betraute, die Geschichte der Zweiten Republik zu rekonstruieren, sagten wir sofort Ja. Doch dann fanden wir heraus, dass es nur Filme von den Besatzungsmächten gab und die Historiker die Geschichte des neuen Österreich noch nicht aufgearbeitet hatten. Die Archive waren damals für 70 Jahre gesperrt. Außerdem wurden die alten Wochenschauen aus dem österreichischen Filmarchiv bei Bränden vernichtet.

Hat Sie das nicht demotiviert?

Nein, meine wunderbaren Mitarbeiter und ich haben das gleich fest in die Hand genommen. Wir haben alle wichtigen Daten ermittelt und Zeitzeugen gesucht. Und wir haben ein weltweites Netz gespannt und nach den Filmaufnahmen der Besatzungsmächte gesucht – in den USA, in England, Frankreich und in der Sowjetunion. Damals hatte fast jeder General einen Kameramann, der ja nicht nur den General, sondern auch das Leben gefilmt hat. Sepp Riff, der große Kameramann, der die Serie mit mir gemacht hat, kannte den Chefkameramann der Sowjetarmee in Moskau. Der wollte helfen. Doch die Sowjets haben lange blockiert. Dafür hatten wir in anderen Ländern etwas mehr Glück. In den USA und England gab es professionelle Filmsucher, die für uns Österreich-Aufnahmen aufgestöbert haben.

"Es geht um die Einstellung: Ich suche jetzt einen Pilz. Das ist das einzige Ziel meines Daseins zur Zeit. Das sollten Psychiater auch ihren Patienten empfehlen. Beim Pilzesuchenfindet man die innere Ruhe sofort."

Und die Sowjets? Wie konnten Sie die schlussendlich erweichen?

Als ich einmal bei Bundespräsident Kirchschläger war, hat er nach unserem Projekt gefragt und ich erwähnte die sowjetische Archivsperre. Da er kurz darauf nach Moskau reiste, ließ er „Österreich II“ auf die Agenda seines Gesprächs mit Sowjetpräsident Breschnew setzen. Und Breschnew hat uns den Zugang zum Zentralarchiv persönlich bewilligt. Das war für mich auch eine Bestätigung, wie Diktatur funktioniert. Nur der Chef selbst bestimmt. Alle anderen haben Angst, etwas zu tun, wofür sie nachher geradestehen müssen.

Sie erzählen das alles mit großer Begeisterung. Wie kommt es, dass sie Ihnen nie abhanden gekommen ist?

Arbeit muss Freude machen. Ist das nicht der Fall, sollte man sie nicht anfassen und sich um einen andern Job umschauen.

Sie waren als ORF-Chefkommentator 1969 bei den Wahlen in Paris im Einsatz. In einem Fernsehausschnitt ist zu sehen, wie Sie trotz schreiender Menschen, einem Konfettiregen und Fahnen im Gesicht einen schlüssigen Kommentar abliefern. Wie haben Sie das geschafft?

Ich habe meine Kommentare immer wie einen Slalom ausgesteckt mit allen Toren. Damit sind alle wichtigen Punkte gemeint, die es zu erklären gibt. Ein Slalomtor führt zum nächsten und durch den Slalom muss ich durch, wurscht, was um mich herum geschieht.

Irgendwie hat man das Gefühl, dass Sie auf alles eine Antwort haben.

Nein, sicher nicht. Fragen Sie mich irgendetwas über Computer. Da habe ich keine Ahnung. Das macht meine liebe Frau.

Mit ihr haben Sie auch mehrere Bücher geschrieben. Zum Beispiel „Pilze suchen. Ein Vergnügen“. Ist Pilze zu suchen wirklich ein Spaß? Es gibt so viele giftige.

Deshalb haben wir das Buch ja gemacht. Damals gab es noch keines, in dem giftige den guten Speisepilzen direkt gegenüber gestellt wurden.

Wie passen politische Analysen und Schwammerlsuchen zusammen?

Sehr gut. Es ist die beste Methode, um abschalten zu können. Pilze zu suchen, ist etwas Besonderes. Wenn Sie nur zum Spazieren in den Wald gehen, nehmen Sie all Ihre Gedanken mit – Arbeit und Sorgen. Der Kopf wird nicht frei. Aber beim Pilzesuchen sind Sie so konzentriert, dass Sie an nichts anderes mehr denken.

Ist das Ihre Form der Meditation?

Ja, und Leidenschaft. Es ist auch kein großes Malheur, wenn man nichts findet. Es geht um die Einstellung: Ich suche jetzt einen Pilz. Das ist das einzige Ziel meines Daseins zur Zeit. Das sollten Psychiater auch ihren Patienten empfehlen. Beim Pilzesuchen findet man die innere Ruhe sofort.

Warum sind die Pilze im Buch gemalt statt fotografiert?

Wenn ich Sie jetzt fotografiere, sind Sie Sie. Und wenn ich Ihr Bild dann in einem Lexikon zur Illustration des Themas „Der Mensch“ verwende, ist das nicht „der“ Mensch, sondern es sind immer noch Sie. Genauso ist es mit Pilzen. Ein fotografierter Steinpilz ist ein bestimmter Steinpilz, ein gemalter stellt die Art dar. Wir haben damals durch Zufall einen tollen Pilzmaler in England gefunden, Alfonso Madden, der uns das gemacht hat.

Sie sprechen oft von Zufällen, ist mir aufgefallen. Auch in Ihrem Buch „Die Olive und wir“, in dem es um den Erwerb Ihres Hauses in der Toskana geht.

Ja. Bis es uns gehört hat, war das eine Aneinanderreihung von 21 Zufällen innerhalb von 24 Stunden.

Vielleicht war es ja auch Bestimmung?

Das ist Determinismus. Ich glaube nicht, dass irgendetwas vorbestimmt ist. Man muss sich schon alles selber machen.

Sind Sie Realist?

Wenn man politische und andere Ereignisse objektiv schildern will, muss man realistisch sein. Das heißt aber nicht, dass man nicht auch emotional mitgeht. Zum Realismus gehört auch Emotion.

Dann ist es ja ein Glück, dass bei Ihnen beides zusammenkommt.

Reiner Zufall.

Info: „Österreich II“ neu, ist ab 26. Oktober, um 20.15 auf ORF III zu sehen.

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