Angst vor zu viel Freizeit: Eine Psychologin erklärt
Welche Bedeutung hat Freizeit für uns?
Freizeit an sich ist ja ein eher moderner Begriff. Früher hatte man „arbeitsfreie“ Zeit, die oft sehr beschränkt war und tatsächlich zur dringend notwendigen Regeneration genutzt wurde. Heute ist die Freizeit ein Wirtschaftszweig mit entsprechend vielen Angeboten, Sportarten, Kinderparks, Attraktionen…
Besteht ein Überangebot an Aktivitäten, an Ablenkung?
Es ist jedenfalls so, dass die Verplanung der Freizeit für viele zum Stress wird. Und wir können uns durchaus die Frage stellen: Haben wir denn überhaupt Freizeit? Und wenn ja, dann gestalten wir diese selbst- oder fremdbestimmt?
Wie darf man das verstehen?
Es ist doch so: Fragt man jemanden, wie seine Woche so war und er antwortet, dass er eigentlich NICHTS gemacht hat, werden wir misstrauisch. Nichts tun passt nicht in unser aktives Weltbild. Langweile ist extrem negativ besetzt. Gibt der Befragte aber an, Stress zu haben, ist das positiv, weil er etwas tut, sich beweist. Dafür geht er dann zwei Mal in der Woche zum Meditieren…
Weil er sich dann aktiv langweilt, ist es gesellschaftlich okay?
Genau. Aber im Grunde ist es nichts anderes, wir beschäftigen uns mit uns selbst, reflektieren – finden zu uns. Meditation ist eigentlich nichts anderes als Zeit mit seinem inneren ICH zu verbringen. Das wird von der Gesellschaft positiv bewertet, weil diese Art der „Freizeitlangweile“ einen lukrativen Namen besitzt und hübsch klingt. Auf der Couch zu liegen und sich zweimal die Woche bewusst zu langweilen ist hingegen unakzeptabel und fremd.
Und diese Einstellung des Aktiv-sein-Müssens nehmen wir in die Freizeit mit?
Viele Familien planen ihre Freizeit sogar akribisch. Nur ja kein Leerlauf! Einerseits, um die gefürchtete Langeweile zu vermeiden, andererseits will man zeigen: Wir tun was, wir sind aktiv! Wir leben in Zeiten der unendlichen Freizeitmöglichkeiten, haben aber wenig Freizeit, ist das nicht bedenklich? Als Eltern sind wir ständig im Freizeitstress, und machen uns Gedanken, von anderen kritisiert zu werden, weil wir unseren Kindern nicht das alles ermöglichen. Dabei bestehen die Wochenenden und Urlaube der Eltern meist nur noch in der Freizeitplanung für ihre Kinder...
Auf den Social Media Kanälen?
Ja, früher hat man das am nächsten Tag seinen Kollegen erzählt, heute zeigt man es der ganzen Welt. Wir wollen, dass jeder, der unser Selfie mit den selbst gemachten Spaghetti sieht, sagt: Wow, der kann gut kochen! Oder eben: der kann gut Skifahren, der hat jede Menge Spaß… Dasselbe gilt für unsere Beziehungen: Wir zeigen uns der Welt in Umarmungen, beim Küssen mit unserem Partner. Auf den Social Media Kanälen geht es fast immer um Bestätigung. In manchen Berufsgruppen gehört die permanente Medienpräsenz bzw. Dauerverfügbarkeit mittlerweile zum Berufsalltag, und für viele auch bei besten Bemühungen leider unvermeidbar.
Was haben wir davon?
Bestätigung, darum geht’s. In manchen Fällen spielt eine gewissen Neugier mit: Wie reagieren andere auf das, was ich grad gemacht habe? Aber bei den Dauerpostern ist es schon ein ständiges Abfragen des allgemeinen Zuspruchs. Ein Bedürfnis nach Bestätigung, das aus persönlicher Unsicherheit entsteht. Und zu einer regelrechten Sucht nach Wertschätzung und Anerkennung werden kann. Begründet auch durch die fehlende qualitative Zeit/Freizeit miteinander: Weil wir dem Alltagsstress so sehr ausgesetzt sind, versuchen wir unsere Existenz, unser Tun und Handel über die Medien zu verbreiten... So haben wir wenigstens die Möglichkeit, gesehen zu werden.
Wie kommt man da raus?
Einfach mal in der Straßenbahn aus dem Fenster zu schauen statt aufs Handy-Display ist ein Ansatz. Aber wir müssen uns auch im Klaren sein: Diese neuen Medien sind Teil unseres Lebens, wir können sie nicht einfach ignorieren. Sollen wir auch gar nicht. Wie wir damit umgehen, wie sehr wir sie unser Leben beeinflussen lassen, ist eben die Frage. Wichtigt ist: Eltern sollten eine gewisse Medienkompetenz besitzen und gute Kontrollmechanismen erarbeiten - und vor allem auch gute Vorbildmodelle für ihre Kinder sein. Denn auch wenn vieles modern und neu ist, bleibt eine Sache unverändert: Wir Erwachsenen waren und bleiben bei bestimmten Fragen auch indirekt richtungsgebend und die erste Orientierung für unsere Kinder.
Neue Medien haben immer für Unruhe und Skepsis gewisser Schichten gesorgt. Bücher wurden ebenso misstrauisch betrachtet wie später Filme, das Radio, Schallplatten, Fernsehen, Computerspiele…
Das stimmt natürlich – aber unser Umgang mit Social Media verändert ja nicht nur unsere Denkweise. Diese Beschäftigung nimmt auch viel mehr Zeit in Anspruch als das Bücher, CDs, Filme und ursprünglich auch das Fernsehen getan haben. Und so kommt es dazu, dass wir ständig das Gefühl haben, zu wenig Freizeit zu haben…
Was tun mit Kindern, die den ganzen Tag vor irgendeinem Bildschirm abhängen wollen?
Für Kinder sind die neuen Medien natürlich eine besondere Verlockung: Jederzeit abrufbar, sie müssen nichts investieren, nicht aktiv oder kreativ sein – und es wird ihnen dennoch nie langweilig. Dabei war Langeweile früher ein fester Bestandteil jeder Kindheit. Was waren viele Stunden doch fad, man quälte sich durch – bis man schließlich doch eine Idee für ein Spiel hatte. Oder eben auch nicht… Als Erwachsene sollten wir es den Kindern wieder ermöglichen, sich zu langweilen. Das müssen sie erst wieder lernen. So wie auf etwas zu warten, oder auch einmal etwas zu vermissen. Das sind Dinge, die wir heute kaum mehr kennen… Nicht weil das als unmöglich erscheint, sondern weil wir Sorgen und Ängste hätten, so etwas wie Langweile zuzulassen.
Was kann man machen?
Wenn die Auswahl zu groß ist, haben Kinder Schwierigkeiten sich mit einem Ding zu beschäftigen. Vier oder fünf „Spaßsachen“, die man machen kann, sind ideal. Bei zu großem Angebot macht man oft einfach gar nichts. Und warum sollte man sich auf etwas freuen, wenn ständig alles verfügbar ist? Oder etwas vermissen? Und natürlich: Welches Vorbild bieten wir den Kindern? Und ist es wirklich nötig, sie vom Musikkurs zum zusätzlichen Sprachunterricht zu bringen, dann zum Reiten, Fußball, Tanzen… Alles, nur kein Leerlauf.
Haben wir denn tatsächlich Angst vor der Freizeit?
Interessant, dass Sie das ansprechen. Ein spanischer Kollege, Rafael Santandreu, hat den Begriff „Freizeitphobie“ geprägt. Wobei wir uns von dem Begriff nicht irreleiten lassen sollten. Wir haben tatsächlich nicht Angst vor der Freizeit, sondern vor der Möglichkeit, dass es in einem Moment der Langeweile unvermeidbar werden könnte, sich mit uns selbst zu beschäftigen… Also in gewisser Weise auch vor uns selbst: Denn wenn wir uns langweilen, kommen wir womöglich auf Gedanken, die wir normalerweise gerne verdrängen, weil wir sonst etwas dagegen unternehmen müssten.
Sokrates hätte so etwas kaum verstanden. Der Philosoph unterschied zwischen Arbeitszeit oder auch „beschäftigter“ Zeit, in die auch Theaterbesuche, Sport und Reisen fielen – und „freier“ Zeit, also Zeit für Muße. In der man reflektiert, nach innen blickt – und so die Möglichkeit bekommt, neue Ideen zu entwerfen. Das scheint mir doch sehr dem zu entsprechen, was wir heute unbedingt vermeiden wollen, oder?
Genau, und damit wären wir wieder bei der Frage: Haben wir heute überhaupt Freizeit bzw. ist diese Freizeit wirklich „unsere“ oder nur etwas, das wir präsentieren wollen? Echte Muße kennen wir heute kaum. Der Grund ist die bereits erwähnte Angst, „mit uns selbst zu sein“, also wir mit uns allein. Dabei ist sie nicht nur für den Philosophen wichtig, der dadurch zu neuen Erkenntnissen kommt, oder den Dichter, der irgendwo in der Einsamkeit, der äußersten „Langeweile“ zu seinen Werken findet. Es ist merkwürdig: In unserer Freizeit beschäftigen wir uns ständig mit „den anderen“. Wir beobachten die Lebensentwürfe und Träume fremder Personen auf Instagram und Facebook und denken an die Reaktionen der Freunde in unseren Netzwerken, wenn sie unsere Selfies vom Familienausflug sehen. Wenn wir uns trauen, uns zu langweilen, könnten wir uns zur Abwechslung einmal mit uns selbst beschäftigen – und dann unsere Freizeit selbst- und nicht fremdbestimmt so gestalten, dass sie auch wirklich „unsere“ ist. Und wirklich gut für uns.
Vielen Dank für das Gespräch.
Elvina Gavriel ist Klinische und Gesundheitspsychologin und Psychotherapeutin
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