Wo sich Normalität eingenistet hat
Ich gehe die Gumpendorfer Straße stadtauswärts. Als ich fast schon beim Gürtel angekommen bin, werde ich Zeuge einer aufrüttelnden, einer elementaren Szene.
Dabei bin ich aufgerüttelt genug. Ich bin dort in die Gumpendorfer eingestiegen, wo sie elegant und vital ist, asiatische Restaurants, das Sperl, die grandiose Buchhandlung Phil, das eindrucksvolle Lichterloh mit seinen Secondhand-Möbeln zu Apothekerpreisen. Hier ist diese 2,4 Kilometer lange Schlagader durch den sechsten Bezirk so, wie sich die Redakteure eines Lifestylemagazins ihre Lieblingsstraße designen würden, Maßschneider, Parfumeur, Bioapotheke (und ganz schön viele Friseure, zur Sicherheit).
Sobald die Straße etwas bergauf zu gehen beginnt und den Flakturm mit der pathetischen Lawrence-Weiner-Schrift auf seiner Stirn anvisiert („SMASHED TO PIECES. IN THE STILL OF THE NIGHT“), fängt diese urbane Musterlandschaft an ein bisschen auszutrocknen, so als sammle sich alles Teure und Schöne in der Senke vor dem Sperl.
Dabei wird es hier erst richtig interessant. Wo früher einmal Schuster und Metallwaren ihre Geschäfte hatten, gibt es jetzt (und zwar nicht seit Neuestem) „Schach und Spiele“, „glamorous“ Vintage-Kleider, Zeitungsoriginale mit Wunschdatum oder neue, alte Feinkostläden.
Hier hat sich die Normalität eingenistet, die ich an Wien so liebe: Das Merkwürdige trifft das Vergnügte, das Bodenständige das Abgefahrene, das Tschocherl, wo „Würstel mit Saft“ Spezialität des Hauses sind, die dogmatisch neapolitanische Pizzeria mit ihrem Glitzerbackofen. Das nächste Geschäft, das aufmacht, kann ein Handyladen sein oder ein Nagelstudio, vielleicht aber auch ein Spezialgeschäft für Vinylplatten aus den Neunzigern oder ein veganer Eissalon. Nirgendwo passt diese artfremde Mischung so gut zusammen wie in dieser Stadt, die zum Glück immer davor bewahrt wurde, dass das große Geld ganze Stadtviertel ausgeschwemmt und dessen lebendige Makrobiologie dabei ruiniert hätte.
Okay, das Arik-Brauer-Haus macht die Gumpendorfer Straße auch nicht schöner. Die Fassaden sind in fahlen Farben surrealistisch bemalt. Die welligen Dachstrukturen erinnern, freundlich gemeint, an die Frisur von Thomas Gottschalk, und der hat noch nie nach Wien gepasst.
Eine junge Frau in auffälliger Kleidung hat sich hier auf die Straße gesetzt. Sie ist betrunken. Ihr Rücken ist an den Ständer eines Parkverbotsschildes gelehnt. Ein ebenfalls betrunkener Mann kümmert sich um sie. Tief gebeugt steht er vor der weinenden Frau und hört ihrem Schluchzen zu.
„Von wem ist denn dann das Kind?“, fragt sie den Mann, der offenbar gerade ihre Gewissheit zerstört hat, dass er es ist, er es sein muss, wieso stünde er sonst da, bei ihr? Der Mann schüttelt den Kopf. Das kann alles heißen, außer: Ich war’s, machen wir’s halt gemeinsam. „Fallt dir echt niemand ein?“, schluchzt die Frau, und die verzweifelte Frage an den Zechgenossen rührt mich wie dessen Ungerührtheit und das Schweigen, das mich verfolgt, als ich mit den nächsten paar Schritten außer Hörweite bin.
christian.seiler@kurier.at
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