Wo ich als Kind Freunde hatte

Alexandra Klobouk
Amalienstrasse – Geylinggasse – Hietzinger Hauptstraße – Meytensgasse: 800 Schritte

Ich gehe durch die Geylinggasse in Ober St. Veit, eine kleine Gasse, die von der Amalienstraße bis zum Roten Berg führt, der diese Ecke grün veredelt. Die Gasse besitzt wenig Attraktionen, zugegeben, ausgenommen vielleicht die Plätze des Tennisclubs "Blau-Weiß", oder, wenn man sehr großzügig ist, die "Pizzeria Portofino" an der Ecke zur Hietzinger Hauptstraße. Trotzdem ist diese Gasse etwas ganz Besonderes für mich. Hier bin ich aufgewachsen. Mit dem Inhaber der Gärtnerei Baumgartner in der benachbarten Testarello-gasse habe ich als Kind Fußball gespielt, und mein Schulweg führte die Hietzinger Hauptstraße bergauf, wo Ober St. Veit ein Weinhauerdorf war und meine Volksschule stand (und steht).Die Kastanienbäume hier in der Gasse habe ich immer wieder gezeichnet, mit Filzstift. Irgendwo müssen die Zeichnungen noch herumliegen, in einer dieser Schubladen, die man nur öffnet, wenn man umzieht. Sie sehen nicht besonders gut aus, die Bäume, denn sie sind Opfer der Kastanienminiermotte, Cameraria ohridella. Deshalb ist ihr Laub schon im Sommer braun und brüchig, und auch wenn diese Schäden der Gesundheit der Kastanien langfristig nicht schaden sollen – sie zeigen mir deutlich, dass auch die Geylinggasse in der Gegenwart angekommen ist.Erinnerungen laden bekanntlich zu Verwechslungen ein. Ich gehe am einen und am anderen Haus vorbei, wo ich als Kind Freunde hatte, und es würde mich nicht wundern, flöge irgendwo ein Fenster auf oder eine Tür, und Niki oder Karl oder Michael von damals liefen mir in die Arme. Ich sehe Kindern nach, die 40 Jahre jünger sind als ich oder mehr, und entdecke in ihnen für einen bescheidenen Augenblick das Kind, das ich selbst war – und das ich selbst noch immer bin, wenn ich hier durch diese Gasse gehe, Gasse der Kastanien, der Küsse und Schneebälle, der gebrochenen Nase, der Flucht vor der Funkstreife, nachdem ich auf das Vereinsheim der Hietzinger Tennisvereinigung ein Attentat mit einem rohen Ei verübt hatte, ich gestehe – so etwas liest man bei Ludwig Thoma in dessen "Lausbubengeschichten"; Literatur bringt junge Menschen eben doch auf blöde Gedanken."Es gibt so etwas wie eine autobiographische Psychogeographie", schreibt der Schriftsteller Ilija Trojanow im Vorwort seiner schönen Anthologie "Durch Welt und Wiese oder Reisen zu Fuß", und das kann ich bestätigen. Fahre ich mit dem Auto durch diese Gasse, dann streift mich die Dynamik der eigenen Vergangenheit nur flüchtig. Aber steige ich aus, gehe ich von der Ecke, wo früher das Milchgeschäft war, zum Garten, den ein berühmter Autohändler besaß. Dann reise ich spielend durch die Jahrzehnte, fühle ihren Geschmack auf der Zunge, bin berührt von der unschuldigen Heiterkeit, mit der ich sie kommen sah und erschrecke, wie lakonisch die Zeit seither vergangen ist.In der Wohnung, wo ich aufgewachsen bin, wohnt längst jemand anderer. Und trotzdem sehe ich mich auf ihrem Balkon im Hochparterre stehen und mir selbst zuwinken und sagen: "Ich bin’s." – "Ja", rufe ich zurück. "Ich auch."

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