Wo das neue Jahr auf mich wartet
Ich gehe dem alten Jahr entlang von Ischgl nach Galtür. 2018 war okay, ich kann, wie mein Freund, der Intendant, gern sagt, „nicht besser klagen“. In Ischgl habe ich ganz exquisit gegessen, der Koch des Jahres 2019 hat sich persönlich um mich gekümmert. Ich kann nur sagen: Er hat schon 2018 gut gekocht.
Ich gehe an der Talstation der Silvrettabahn vorbei, überquere den riesigen Parkplatz auf der drüberen Seite der Paznauner Landesstraße und folge, vorbei an einem eingewinterten Minigolfplatz, dem Talwanderweg Richtung Galtür, der Ortschaft am Ende des Tals, oder wie der Galtürer Bürgermeister gern sagt: Ganz oben im Paznaun. Galtür liegt tatsächlich weit oben, auf fast 1600 Meter, das hat dem Ort im Volksmund den erstaunlichen Titel „Weiberhimmel“ eingetragen. Weil auf dieser Höhe keine Landwirtschaft mehr möglich ist, mussten die Frauen von Galtür nicht am Feld arbeiten. Weiberhimmel, was sonst.
Durch ein Wäldchen samt Sägewerk, am Werkstoffhof vorbei, unter der Straße hindurch, der Trisanna entlang nach Mathon, kleine Schautafeln am Wegrand zeigen Werke von Mathias Schmid, dem Barockmaler, dem in Ischgl ein eigenes Museum gewidmet ist, Miniaturen des Lebens im Tal, wie es vor 120, 130 Jahren ausgesehen hat. Erstaunlich.
Links und rechts steigen die Flanken der Berge auf. Ein frischer Wind kommt mir entgegen, und es riecht nach Schnee. Ich gehe am Wildpark vorbei und folge dem Flusslauf Richtung Quelle. Die Straße verschwindet jetzt hinter einem bewaldeten Hügel, die Trisanna hat sich hier durch felsiges Gelände ihren Weg gebahnt, mein Weg ist mit massiven Geländern abgesichert. Für ein paar hundert Meter bin ich ganz allein mit dem Rhythmus meiner Schritte und dem Rauschen des Flusses, in diesem vagen Zustand der Selbstvergewisserung, den dir das Gehen schenkt, wenn Bewegung und Denken zu völliger Übereinstimmung kommen.
2018, ein Jahr in Bewegung, an neuen Orten genauso wie hinter manchen Kulissen der alten und vertrauten. Für 2019 nehme ich mir gar nicht noch mehr Schritte vor, es sind ausreichend viele gewesen. Ich will sie nur zur richtigen Zeit an die richtigen Ziele lenken.
Vor mir liegt ein Stein auf dem Weg. Mir fällt die Zeile aus dem Lied „Bevor ich dich traf“ von der neuen Element of Crime-Platte ein: „Siehst du den Stein auf der Straße/der ist klein, schmutzig und schwer/Der liegt dort weil keiner ihn haben will/aber auch weil er niemanden stört/Den wird irgendwann einer werfen/Gegen wen oder was ist nicht klar/Und der Stein wird das erste Mal fliegen/und findet das/ganz wunderbar …“ Also hebe ich den Stein auf, von dem hier die Rede war, werfe ihn ins Wasser und sehe zu, wie er nicht nur fliegen, sondern auch schwimmen lernt.
Dann öffnet sich vor mir das Tal. Die ersten Häuser von Galtür sind zu sehen und weiter hinten die Kirche und noch einmal dahinter, wie gemalt, die Ballunspitze. Aber bevor ich auf die Idee komme, vielleicht sogar einmal den Klettersteig auf diesen schönen Gipfel zu nehmen, drehe ich um. Unten wartet das neue Jahr auf mich.
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
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