Wirklich wahr, Wien ist anders
Ich gehe durch die Bäckerstraße Richtung Innenstadt und denke mir, wirklich wahr,
Wien ist anders. Ich erkenne die Wiener inzwischen an der Art, wie sie gehen – oder sollte ich sagen: wie sie nicht gehen?
Nach ein paar Tagen in Manhattan, die ein Vorgeschmack auf das Fegefeuer waren, habe ich begriffen, was die Bewegungen der New Yorker so eckig macht: Sie haben keine Zeit, in ihren eigenen Schritten anzukommen. Sie sind, bevor der nächste Schritt gesetzt ist, schon einen Schritt weiter. Sie kontrollieren gleichzeitig auf ihren Handys die Ankunft der nächsten U-Bahn, fluchen, verschieben ihren Termin, winken einem Taxi – das eine immer, bevor das andere fertig ist. Das macht diesen permanenten Schwebezustand aus.
In Zürich hingegen muss man sich wie auf einem Laufsteg bewegen: So viele schöne Menschen, erstklassig angezogen, im Fitnessstudio gestählt, und wenn sie jetzt über die, sagen wir, Seepromenade gehen, dann wollen sie auch, dass sich ihre Anstrengungen gelohnt haben: Schaut her, Leute! Sicherlich – gibt es mich – ich bin ich ...
Nichts davon in Wien. Auf der Bäckerstraße hat es niemand wirklich eilig, außer vielleicht die japanische Gruppe, die nicht davon abzubringen ist, die Wechselwirkung zwischen 35 Grad Außentemperatur und einem flächendeckenden Wiener Schnitzel beim Figlmüller zu überprüfen.
Ich gehe am Café Engländer vorbei, wo mir Herr Walter, Wiens bester Kellner, freundlich fragend zuwinkt. Das bedeutet, ohne Worte: „Wieso hast du es so eilig, Langer? Setz dich doch hierher, bestell einen kleinen Braunen wie immer, dann besprechen wir den letzten Monat, mindestens, und dann ist es immer noch früh genug.“
Eh. Morgen. Jetzt bin ich abgelenkt. Fasziniert schaue ich den beiden Außenmitarbeitern des Eckwirtshauses Pfudl zu, wie sie sich vor der stressigen Mittagsstunde im fertig aufgedeckten Schanigarten ein selbst gedrehtes Zigarettchen gönnen. Dann begrüße ich den Wirten des „Oswald & Kalb“, der seine Höhle für ein paar Minuten verlässt, um zu überprüfen, ob der Himmel über der Hauptstadt immer noch fehlerlos blau ist, was ihn zu einem resignativen Referat über die Zusammenhänge von Schönwetter und Gasthausbesuchen inspiriert, deren Schlüssigkeit ich nichts entgegenzusetzen habe.
Dann laufe ich einem aufstrebenden Künstler in die Arme, der im Gehen nachdenkt: Seine Schritte sind 72 Zentimeter lang (ja, das kann ich sehen) und elastisch wie die Sohle eines Nike Air. Er hat keine Eile und kommt trotzdem vom Fleck. Seine Silhouette passt in die Schattenbuchten des Wiener Innenstadtbarock wie Hoppers Nighthawks ins späte Licht des 24-Stunden-Diners, dabei ist der Tag hell, und ich stehe auf dem ehemaligen Universitätsplatz und betrachte die harmonischen Proportionen der Jesuitenkirche und wie der Künstler zielsicher ihre Pforte ansteuert, weil er, so wie ich, gehört hat, dass der neue Organist begonnen hat zu üben, das lässt möglicherweise die Zeit stillstehen.
Das liebe ich an Wien. Das Raum-Zeit-Kontinuum und seine einladenden Lücken.
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