Wenn die Glocken läuten

Wenn die Glocken läuten
Mariahilfer Straße – Reindorfgasse – Sechshauser Straße: 800 Schritte

Ich gehe durch die Reindorfgasse, als die Glocken der Pfarre Zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit zu läuten beginnen. Ich finde es ja immer bemerkenswert, dass die Glocken ausgerechnet dann läuten, wenn ich was Feierliches denke, aber weil ich selten was Feierliches denke, fällt es mir auch selten auf. Jetzt aber denke ich gerade an Günter Brödl, den Mann, der die Reindorfgasse vor gut 20 Jahren zur literarischen Landschaft erklärt hatte, indem er hier lebte, aus dem Fenster schaute und das Gasthaus Quell oder die Weinhandlung Rudolf Polifka zu Schauplätzen jener Geschichten machte, über die der Ostbahn Kurti dann sang.
Diese Songs waren mitreißend. Sie befleißigten sich des Vorstadt-Strizzi-Wienerischen, das um ein Alzerl angegrauter war als der Ostbahn selbst, der bekanntlich zu gleichen Teilen aus Günter Brödl, dem Autor aller Ostbahn-Texte, und Willi Resetarits, dem Impersonator des Ostbahn zusammengesetzt war. Brödl starb im Oktober des Jahres 2000, nur 45 Jahre alt, es ist lange her, dass wir gemeinsam durch die Reindorfgasse spazierten.
Die Glocken läuten, und ich wage einen Blick ins Innere der Weinhandlung Polifka, wo eigentlich Flaschenweinverkauf bis 22 Uhr stattfinden soll. Aber niemand ist da. Vielleicht sitzt der Verkäufer stattdessen drüben im „Quell“, wo der Ostbahn ja einmal eine Platte aufgenommen hat und dafür mit einer Gedenkplakette an der Wirtshausvertäfelung belohnt wurde. Super Wirtshaus: Ich selbst habe hier einmal vor vielen Jahren Geburtstag gefeiert, und Günter Brödl schenkte mir Bootlegs von Elvis Costello und Ry Cooder, die er hier, direkt in der Reindorfgasse, besorgt hatte. Ein Typ namens Helmuth L. Vyskocil nutzte für ein, zwei Jahre eine Gesetzeslücke im EU-Recht und bot unglaublich interessante Tonträger aus undefinierbaren Quellen an, spektakulär genug, wobei die Biografie des Verkäufers noch spektakulärer war: Helmuth hatte sich in Thailand mit Drogen erwischen lassen und war in Bangkok für drei Jahre ins Gefängnis geworfen worden. Darüber hatte er einen Bericht namens „Rough Boys“ geschrieben, bei dessen Lektüre dir schwindlig wurde. Gibt es nur noch antiquarisch, aber die Suche lohnt sich. Auch Helmuth ist längst abgebogen, wie man in Fünfhaus vielleicht noch sagt, und dort, wo einmal sein Geschäft war, verwandelt sich die Reindorfgasse gerade ein bisschen in etwas Berlinerisches: Mode- und Kunstlabels wie „Schwalbe“ oder „Urban Tool Design“ sind hier eingezogen, ein Gassenlokal heißt „Nimm mich“ und präsentiert sich als „Raum für vieles“. Auf einer anderen Fassade wird die „Flucht nach vorn“ beschworen. Das könnte auch von Helmuth kommen.
Je weiter ich von der Mariahilfer Straße Richtung Sechshauser gehe, desto mehr verwandelt sich die hipstermäßige Großstadtmodernität zurück in die doppelbödige Vorstadtnormalität. Im „Café Reindorf“ gibt es Gespritzte für kein Geld, der Brödl würde hier vielleicht den „Bauchstich“ erkennen, der auch kein Guter war.
Den Gespritzten habe ich auf ihn getrunken. Dann haben die Glocken geschwiegen.

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