Wenn die Fantasie mit einem durchgeht
Ich gehe vom Lainzer Tor Richtung Hermesvilla und habe gemischte Gefühle.
Einerseits ist dieser Vorhof zum Lainzer Tiergarten ernsthaft schön und abwechslungsreich, samt Infostand beim Eingang, faulem Damwild im großen Gehege auf der einen Seite des Trampelpfads zum Sommerschloss und einem ausgewachsenen Ententeich auf der anderen.
Andererseits werde ich hier immer wieder an die ambivalenten Freuden des kollektiven Gehens erinnert. Neben mir bewegen sich mit aufreizender Langsamkeit ganze Familien Richtung Hermesvilla, vorne der Pater familias, der das Tempo vorgibt, weil ihm seinerseits seine knurrende Wampe den Weg zur Labstelle weist, knapp dahinter die Mama, die dem fast schon pubertären Buben erklären muss, warum so ein Spaziergang nicht sinnlos, nicht fad und nein, keine Vergeudung wertvoller Freizeit ist, die man viel besser darauf verwenden könnte, Sprints auf der Playstation zu trainieren.
Jüngere Kinder bleiben einfach stehen, können nicht mehr und müssen getragen werden. Ältere Kinder beginnen schon auf dem Zustieg zur Hermesvilla mit dem Ballspiel, und ja, ich eigne mich spitzenmäßig als Torstange.
Aber mehr als diese vertrauten Sonntagsärgernisse bringen mich die Wortfetzen aus dem Konzept, die ich ganz automatisch aufschnappe, wenn ich zum Beispiel an zwei Frauen vorbeischieße, und eine sagt gerade zur anderen: „Dann hab ich es einfach nicht mehr ausgehalten, bin aufgestanden und raus ...“
Was meint sie? Werde ich gerade Zeuge eines Beziehungsdramas? Oder ist der Dame in ihren Fünfzigern bloß in der Sauna zu heiß geworden? Ich drehe mich kurz um und sehe etwas zu enge, etwas zu bunte Kleider und große, melancholische Augen, was beide Theorien stützen könnte. Bevor ich mich aber darauf einlasse, mir vorzustellen, was die Frau einfach nicht mehr ausgehalten hat, höre ich schon den Typen mit der Lederhose zum anderen sagen: „... das passiert mir sicher nicht noch einmal, da kann sie Gift drauf nehmen ...“
Was passiert ihm nicht mehr? Wer ist sie? Musste er ihr etwas verzeihen oder sie ihm? Vielleicht die Lederhose? Eine Lüge? Einen Seitensprung? Ist der Weg zur Hermesvilla, dem Sommerschloss der beziehungsgestörten Kaiserin Sisi, gepflastert mit Beziehungsdramen des Jahres 2017?
Ein älteres Paar wandert mit langen, knotigen Schritten und schweigt, Kinnladen schnittig in den Wind gereckt. Ist es ein gutes Schweigen? Ein angestrengtes Schweigen? Das sichere Indiz dafür, dass sich die beiden nichts mehr zu sagen haben, dass ein eingespieltes Gefüge von Zuneigung und Abhängigkeit gerade in Schieflage kommt? Haben sie eine andere Ebene der Kommunikation erreicht? Ist ihnen für ein paar Minuten der Schmäh ausgegangen?
Oder geht mit mir die Fantasie durch, seit ich Hanya Yanagiharas himmeltraurigen Beziehungsroman „Ein wenig Leben“ gelesen habe (in dem der Held auch ziemlich ausgedehnte Stadtwanderungen unternimmt, freilich aus Verzweiflung über seine sich auflösende Gesundheit)? Ich weiß es nicht, aber ich entscheide mich dafür, die Hermesvilla links liegen zu lassen und lieber zum Rohrhaus weiterzuwandern, wo die Abstände zwischen den Waldbenutzern größer werden und sympathische Wildschweine mich auf andere Gedanken bringen.
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