Unterwegs an der Stadtgrenze
Ich gehe beschwingt, denn ich bin mit der U1 so weit gefahren wie noch nie zuvor. Ins Marchfeld. Nach Leopoldau. Leopoldau gehört zwar seit 1904 zu Floridsdorf, lag als eigenständiges Dorf jedoch lange auf der Route vom Donauübergang bei Jedlesee nach Deutsch-Wagram und Aspern, ein sogenanntes Angerdorf auf einem verlandeten Donauarm, immer wieder umspült, wenn die noch unregulierte Donau Hochwasser führte.
Leopoldau liegt also dort, wo die Stadtgrenze oft quer über einen Acker oder einen Weiher verläuft, wobei das Urbane nie allzu weit entfernt ist. Man sieht die Türme großer Gemeindebauten, aber auch – am urbanen Horizont – die schlanke Silhouette des DC-Towers und des Donauturms. Ich folge auf einer mäandernden Route dem Verlauf der U1 Richtung Kagran. Zuerst faltet sich vor mir die Großfeldsiedlung auf, Wiens erste Satellitenstadt, wo heute in Wiens größter Gemeindebau-Siedlung 21.000 Menschen leben.
Ein Einkaufszentrum, bunt angemalte Wohnschachteln, eine Hausfassade, die mit einem Spruch Franz Kafkas poetisch veredelt wurde: „Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie.“
Mhm, denke ich mir, die Herrlichkeit des Lebens ist hier nicht unbedingt auf den ersten Blick zu erkennen. Wüsste ich ihren richtigen Namen, ich würde sie rufen, ganz bestimmt. Ich betrachte einen Lageplan der Siedlung, der hier angebracht ist, zur besseren Übersicht. Der Plan ist mit Abziehbildern und deren verwirrenden Schriftzügen verziert: „Kokain statt Muezzin“, Absender: „Die Tanzbrigade“. Oder: „RapeRefugees Not Welcome. Stay away.“
Ob das der Name der Herrlichkeit ist? Ich bezweifle es.
Ich überquere die Julius-Ficker-Straße, besichtige die beeindruckenden Gebäude des neuen Citygates bei der Aderklaaer Straße, wundere mich, warum ausgerechnet der „guteste Burger der Welt“ bei „Masta George“ nicht erhältlich, weil Hütte geschlossen ist, gehe an Industrie- und Gewerbegebäuden vorbei, an weiteren Gemeindebauten aus den Sechzigerjahren, dem Josef-Bohmann-Hof, an aufgebrezelten und verschlimmschönerten Kleingartenhäusern, bis ich im Ingeborg-Bachmann-Park Pause mache, wo ein einsamer Bub mit dem Roller Kreise dreht, und ja, auch das besitzt eine Art von Poesie.
Auf verschlungenen Wegen abseits des Autoverkehrs – ich sehe Bürgerhäuser, Handwerkerhäuser, Wohnsilos, Sportplätze, Plakatwände mit alten Reklamen, das Donauzentrum, eine Remise, die Vienna International School, die dicht befahrene Wagramer Straße – erhasche ich am Ufer der alten Donau einen einsamen, prachtvollen Blick auf Wiens Skyline im Zwielicht. Die Kurven der UNO-City, der schiefe Coop-Himmelblau-Turm, Wiens zum Himmel strebendes Quartier: Schön, denke ich, aber noch immer weiß ich nicht, in welcher Tiefe oder Höhe die Herrlichkeit des Lebens zu finden ist.
christian.seiler@kurier.at
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