Sich verlieren

Sich verlieren
London Whitechapel – Shoreditch High Road – Columbia Street Flower Market: 9800 Schritte

Ich gehe, wenn ich auf Reisen bin, noch viel beseelter zu Fuß als zu Hause. Gehen bedeutet ja viel mehr als schlichte Fortbewegung: Gehen heißt, eine Gegend – besonders eine, die man bisher nicht kannte – zu begreifen, und das ist, sagen wir, vom Oberdeck eines HOP ON-HOP OFF-Doppeldeckerbusses ungleich schwieriger, selbst wenn einem die sonore Stimme eines Radiosprechers interessante Informationen über die „Houses of Parliament“ oder „Piccadilly“ ins Ohr flüstert.
Reisen heißt Bewegung, und je schneller diese Bewegung, desto flüchtiger das Erlebnis. Es gibt Städte, von denen ich nicht viel mehr als den Weg vom Flughafen zum Stadtzentrum kenne, und vom Stadtzentrum nicht viel mehr als die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, und von den wichtigsten Sehenswürdigkeiten eigentlich nur die, deren Bild vorne auf dem Reiseführer prangt, mit der ich also schon irgendwie vertraut war, bevor ich meine Reise überhaupt angetreten hatte.
So reduziert sich zum Beispiel das Erleben von Venedig auf den Korridor zwischen San Marco und Rialto, wo sich etwa achtzig Prozent aller Venedigtouristen gerade drängen, um eine Dosis Lagunenstadtflair und eine fette Pizzaschnitte mitzunehmen. Venedig ist ein gutes und ein schlechtes Beispiel für das, was ich meine. Ein schlechtes, weil die Stadt ihre Besucher ja zwingt, zu Fuß zu gehen, wenn sie nicht in Gesellschaft eines öligen Gondoliere durch die Kanäle schippern wollen. Sie können sich also nicht, wie zum Beispiel in London – in Bussen und Taxis der Gewissheit hingeben, zwar an einem neuen Ort, dabei aber unter sich zu sein. Andererseits führen dich an kaum einem anderen Ort so wenige Schritte in eine unentdeckte Welt von Gassen, Brücken und Trattorien, die in keinem Reiseführer stehen und bescheren dir vielleicht sogar das unvergessliche Gefühl, für einen Moment verloren gegangen zu sein.
Sich Verlieren: Dieses Gefühl trägt die ganze Essenz des Reisens in sich. Es unterminiert die geometrischen Gewissheiten des Stadtplans, lässt die Hand zum Handy schnellen, um auf Google Maps den gegenwärtigen Standort aufzurufen. Vielleicht trägt das Gefühl auch den Keim einer kleinen Angst in sich, einer Orientierungslosigkeit, die über die rein räumliche hinausgeht. Aber sie mündet unausweichlich in die Euphorie, sich wiederzufinden, eine Ecke, eine Straße, einen Platz zu betreten, den man erkennt, wo die Orientierung zurückkehrt und die Verlorenheit der Gewissheit Platz macht, die Herausforderung des Reisens bewältigt zu haben.
Dieses Erlebnis ist dem Fußgänger vorbehalten. Ich verliebte mich zum Beispiel, um in Venedig zu bleiben, in die abgelegenen Seiten der Giudecca. Ich erkundete, um bei London zu bleiben, Merkwürdigkeiten im East End, entdeckte, weil mir so viele Menschen mit Blumen unter dem Arm entgegenkamen, den wunderbaren Columbia Street Flower Market, verlief mich, fand mich wieder, war beunruhigt, war froh, setzte mich, um zu rasten. Dann ging ich weiter, weil Reisen Gehen ist, und nur das Gehen den Touristen  erst zum Reisenden macht.

christian.seiler@kurier.at

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