„Schieb ein bisschen, Christian“

„Schieb ein bisschen, Christian“
2.500 Schritte: von Padstow bis zum St. Saviour’s Point: Eine Geschichte mit Aussicht und Erinnerung

Ich gehe aus dem Hafen von Padstow, wo der elegante Herr von vorhin gerade seine Gitarre ausgepackt hat, sich auf einen Klappstuhl setzt und beginnt, Otis Redding-Songs zu spielen, schlendere entlang den Geschäften an der Hafenfront – Cornish Bakery, Fish&Chips, Surfbretter, Yachtmode, Crab Sandwiches – und steuere nicht das Pier an, von dem aus man diesen pittoresken Hafen in Cornwall, Südengland, optimal im Blick hat, sondern den Anstieg zum Coast Path, dem grandiosen Wanderweg, auf dem man in ganz Cornwall direkt an der Küste spazieren oder marschieren kann, je nach Laune.
Meine Laune steht mir nach einem Abendspaziergang. Aus dem Hafen hat sich die Sonne schon zurückgezogen, aber auf der aufsteigenden Flanke der Halbinsel, unter der sich die Mündung des Camel-Rivers in den Atlantik ziemlich selbstbewusst inszeniert, liegt noch das orangerote Licht der demnächst einbrechenden Dämmerung.
Es ist Ebbe. In dem breiten Becken, wo sich Fluss- und Meerwasser treffen, sind aus dem Wasser elegant geschwungene Sandbänke aufgetaucht. Im Schlick spielen Hunde. Auf der anderen Seite der Bucht baden Kinder. Die blassen Farben des Wassers und des Sands stehen in hartem Kontrast zum fetten Grün des Grases.
Dieser Blick ist für viele vorbereitet. Auf der Anhöhe des „St. Saviour’s Point“ stehen fünfzig, sechzig Sitzbänke, auf denen man sich ausruhen und die Aussicht genießen kann, ich habe sie nicht gezählt.
Als ich an den Bänken entlanggehe, fällt mir auf, dass auf jeder Lehne ein kleines Schild aus Messing angebracht ist, in das eine Botschaft eingraviert wurde. „In Memory of Ron & Ivey Worsdell“ – „In Loving Memory of my Wife Joan Mary Taylor and all the happy memories associated with this view“ – „In Memory of Kenneth Whitehead, who loved the view from this path“.
Ich musste mich setzen. Ganz plötzlich, fast zweitausend Kilometer von zu Hause entfernt, musste ich ganz heftig an meine Großmutter denken, die vor 18 Jahren gestorben ist, und an die Bank auf dem Roten Berg, auf der ich mit ihr immer gesessen war, nachdem wir die Steigung zum Girzenberg wieder einmal bewältigt hatten. „Schieb ein bisschen, Christian“, hatte sie gern gesagt, als sie schon über achtzig war und nicht mehr ganz so gut zu Fuß, und ich half ihr ein bisschen nach oben, und dann waren wir nebeneinander gesessen und hatten auf die Stadt hinunter geschaut, die mild im Dunst lag, und wir schwiegen und genossen das Schweigen, weil alles Wesentliche gesagt war.
Ich saß also auf Kenneth Whiteheads Bank und schaute auf das Camel Valley, auf das Spiel der Gezeiten, die Boote, die Kinder, aber ich sah in der späten Abendsonne die Stadt Wien, die ferne Skyline, die Schneise des Wientals, das Muskelspiel der Kirchtürme, und in Gedanken montierte ich auf die Bank am Roten Berg die Messingtafel, die dort schmerzlich fehlt und auf der eingraviert ist: „Für meine Großmutter Charlotte Seiler, die diesen Blick so liebte und deren Anblick ich so liebte. Mit niemanden war es so gut zu schweigen. Am besten hier.“

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