Schaftrieb mit Aussicht
Ich, gehe, und, ja, ich, bin, ziemlich, außer, Atem. Es ist noch nicht einmal fünf Uhr früh (und ich erspare euch mein weiteres Keuchen), weil ich aufpassen muss, dass ich nicht den Anschluss verliere an die stämmigen Südtiroler Treiber mit ihren azurblauen Schürzen, die etwa 1500 Schafe vom Schnalstal ins
Rofental treiben, wo Südtiroler Bauern seit Jahrhunderten Weidegründe besitzen. Der wissenschaftliche Begriff für das, was wir hier tun, lautet Transhumanz, Fernweidewirtschaft. Der Weg der Schafe aus dem Schnalstal über den Alpenhauptkamm in die hintersten Ausläufer des Ötztals ist seit Jahrtausenden bekannt. Die UNESCO hat die archaische Tradition 2011 in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes Österreichs aufgenommen.
Die Route führt durch das Oberbergtal und die Hänge unter der Steinschlagspitze hinauf auf die „Stueteben“, einen flachen Boden auf halber Höhe des Aufstiegs. Von dort geht der immer enger werdende Weg durch felsiger werdende Hänge nordostwärts hinauf zum Schutzhaus „Schöne Aussicht – Bellavista“, das auf 2842 Meter den höchsten Punkt der Überschreitung des Alpenhauptkamms markiert. Die Treiber nehmen nicht den alten Hüttenweg, der als Wanderweg ausgeschildert ist. Sie gehen querfeldein. Mit langen, tief aus der Brust kommenden Rufen geben sie die Richtung vor und entlassen die Tiere in die nur langsam aufgrauende Dunkelheit.
Die Tiere schwärmen aus, formieren sich zu kleinen Gruppen, meistern die Steilheit ohne Mühe. Das Rufen der Treiber, das Klingen der Glöckchen, das vielstimmige Mäh der Tiere vermischen sich zu einer alpinen Polyphonie.
Als es um halb sechs hell ist, hängen aufgezwirbelte Wolken am Alpenhauptkamm. Die Wanderung hat ihren Rhythmus gefunden. Die Treiber rufen, die Tiere rufen zurück. Die Gipfel im Süden liegen jetzt in der Sonne, es ist ein kostbarer Moment. Nach den ersten 500 Höhenmetern geht es jetzt über nur noch mäßig steile Wiesen zum Boden der „Stueteben“. Dort wartet der Treiber, der die Führung übernommen hat, um seine Tiere für den nächsten Abschnitt zu sammeln.
Der Weg wird jetzt schmaler. Er führt zwischen pittoreske Felsformationen und wie ein dunkler Strich quer durch monumentale Schneefelder. Die Schafe folgen nicht mehr den Gesetzen der Chaostheorie wie zu Beginn. Sie haben sich zu einer langen Reihe formiert, einer Reihe lebendiger, natürlicher Farben, aus denen die auf ihr Fell gesprayten, bunten Markierungen herausstechen wie allzu farbige Anoraks auf der Skipiste. Ohne jedes Anzeichen von Müdigkeit stapfen sie bergauf, balancieren geschickt über die felsigen Wege. Meine einzige Aufgabe besteht darin, nicht im Weg zu sein.
Auf der Bellavista-Hütte Rast, Gerstensuppe, Bier. Dann über das Hochjoch in Richtung Rofental, Schnee, Schafe, Treiber, ich, eine aus der Zeit gefallene Wanderung. Als die Schafe nach acht Stunden Marsch das Gras ihrer Weiden zu riechen beginnen, sind sie außer sich. Ich kann das verstehen. Auf mich wartet in Vent eine Mahlzeit und ein Bett. Ich kenne nur die Reihenfolge noch nicht.
christian.seiler@kurier.at
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