Rund um den Judenplatz
Ich gehe über den Judenplatz, weil ich besonders gern über den Judenplatz gehe. Manchmal, zum Beispiel auf dem Weg vom Schwedenplatz zum MuseumsQuartier, schlage ich, statt die Tuchlauben entlang zu marschieren, einen Haken, nehme zuerst die Schulter- und dann die Jordangasse, um aus diesem Gässchen, das am Verwaltungsgerichtshof vorbeiführt, der ehemaligen Böhmischen Hofkanzlei, mit durchgedrücktem Rücken auf den Platz hinauszutreten, der für mich einer der schönsten Wiens und damit der Welt ist.
Der Judenplatz ist eingerahmt von prächtigen Barockhäusern, zwei, drei, vier oder sogar fünf Stockwerke hoch, an die Umgebung angebunden von schmalen, schluchtartigen Zu- und Abgängen, Parisergasse, Fütterergasse, Drahtgasse, Kurrentgasse, gepflastert von eleganten Stadtsteinen, autofrei, wie es der Innenstadt gut zu Gesicht steht, heiter, weil sich das Licht in den oberen Stockwerken der Judenplatzhäuser fängt und langsam nach unten sinkt, symmetrisch und großzügig, dabei detailverliebt in den Fassaden und Inschriften, und auch ein bisschen mitteilungsbedürftig. Kein Wunder, die eine Hälfte des Platzes wird vom überlebensgroßen Lessing in Beschlag genommen, Gotthold Ephraim, dem fanatischen Aufklärer, dessen Theaterstücke seit dem 18. Jahrhundert ohne Unterbrechung zur Aufführung kommen.
Allein die Aufstellung dieses Denkmals ist eine eigene Geschichte – eigentlich zwei, es gab ja zwei Lessing-Denkmäler. Das erste wurde vom Bildhauer Siegfried Charoux in den Dreißigerjahren geschaffen und 1935 an der Stelle des Judenplatzes enthüllt, wo bis dahin ein Trafikkiosk gestanden war. Die Nazis trugen es 1939 umgehend wieder ab und schmolzen es ein. Charoux, der in London im Exil gewesen war, kehrte nach dem Krieg nach Wien zurück und schuf ein zweites Lessing-Denkmal, das 1968 am Franz-Josefs-Kai aufgestellt und erst 1981 an den angestammten Platz zurückgeholt wurde. Hier steht es jetzt mächtig und etwas ungelenk, und immer wieder, wenn ich vorbeigehe, warte ich darauf, dass mir ein geflügeltes Wort zufliegt, der Sorte „Ein unbekannter Freund ist auch ein Freund“. Bisher hat es Lessing aber vorgezogen zu schweigen.
Natürlich trägt der Judenplatz seinen Namen nicht zufällig. Hier befand sich lange der Mittelpunkt des jüdischen Wiens, das Ghetto und der Schulhof, wo Händler, Gelehrte und Kreditgeber lebten. Im Jahr 1420 befahl Herzog
Albrecht V. die Inhaftierung und Vertreibung aller österreichischen Juden, es kam zur Wiener Gesera, dem blutigsten Pogrom im mittelalterlichen Österreich. Auf dem Jordanhaus, dem eingezwickten, schmalschultrigen Haus auf Nummer 2, erinnert eine lateinische Inschrift daran, dass dieser Massenmord die Stadt „von Schmutz und Übel“ befreit habe.
Zum Glück stehen diesen Geistern dieser Vergangenheit nicht nur Lessing, sondern auch das wundervolle Mahnmal von Rachel Whiteread und ein kluger Kommentar des Wiener Kardinals am Misrachihaus Nr. 8 gegenüber. Man kann weitergehen. Aber man kann auch ein bisschen in sich gehen.
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
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