Im Bezirk der Bobos

Im Bezirk der Bobos
Zollergasse – Mariahilfer Straße – Neubaugasse – Westbahnstraße: 2800 Schritte

Ich gehe durch die Neubaugasse, nachdem ich mich schon einen halben Nachmittag im siebenten Bezirk herumgetrieben habe, und ich denke mir: Das ist also das berühmte Aufmarschgebiet der Bobos.
Vielleicht habt ihr das Wort  schon einmal gehört, zum Beispiel in Zusammenhang mit dem neuen Bundesgeschäftsführer der SPÖ, und wisst trotzdem nicht ganz genau, was damit eigentlich gemeint ist. Deshalb eine kleine Begriffsbestimmung. Das Wort „Bobo“ ist eine äußerst erfolgreiche Kreation des konservativen New-York-Times-Kommentators David Brooks aus dem Jahr 2000. Damals veröffentlichte Brooks sein Buch „Bobos in Paradise: The New Upper Class and How They Got There“. Brooks charakterisierte darin eine neue Oberklasse, die gemäß seiner Wahrnehmung die Yuppies der Achtzigerjahre als Phänomen abgelöst hatte. Dafür fusionierte er die Worte „bourgeois“ und „bohemian“ und beschrieb die Verschmelzung zweier ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Auf der einen Seite war es das karrierebewusste, ehrgeizige und erfolgreiche Bürgertum („bourgeois“), auf der anderen aber die gegenkulturell angehauchte, hedonistische Bohème („bohemian“).
Was auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen schien, erwies sich als frisches, urbanes Phänomen. Plötzlich beschränkten sich gut ausgebildete, erfolgreiche junge Menschen nicht mehr darauf, in der Anhäufung von Macht und Reichtümern ein isoliertes Ziel zu sehen. Sie investierten ihr Geld lieber in Lebensart, gutes, sorgfältig ausgesuchtes Essen, großzügiges Wohnen, Kunstsinnigkeit, ein Faible für Design, Umweltschutz und permanente kulturelle Weiterbildung.
 Ich gehe an Schaufenstern vorbei, die diese Beobachtung stützen. Bioläden, Taschen aus recycelten Lkw-Planen. Vegane Imbisse, Laptophüllen aus Filz und jede Menge Sneakers, die bekanntlich viel mehr sind als bequeme Turnschuhe. Ich mag diesen Bezirk. Ich mag diese Gasse. Ich mag eigentlich auch das meiste, was mit dem Begriff „Bobo“ assoziiert wird, und ich bin immer wieder erstaunt darüber, mit welcher Inbrunst und Oberflächlichkeit wir Bobos oder wenigstens diesem Lifestyle Zugewandte diskreditiert und angegriffen werden.
Dem neuen Bundesgeschäftsführer der SPÖ wurde zum Beispiel angekreidet, dass er Anzug trägt und Shakespeare kennt, was ihn laut einer steirischen Parteifreundin dafür disqualifiziert, beim Zeltfest ein paar Bier zu trinken. Da erinnere ich mich dann doch daran, dass in den Wiener Gemeindebauten große „Arbeiterbibliotheken“ untergebracht waren, weil die Sozialisten früher einmal Bildung als ursächliches Mittel für gesellschaftlichen Aufstieg verstanden. Wenn heute Kulturaffinität als Schimpfwort verwendet wird, wirft das ein trübes Licht auf versäumte Gelegenheiten anderswo, nicht aber auf die Kulturaffinen, Empathischen, die gerade versuchen, versäumte Gelegenheiten nachzuholen. Wollte ich nur einmal gesagt haben. Ich biege jetzt in die Westbahnstraße ein, dort gibt es einen Laden, wo alte Schallplatten verkauft werden. Interessiert mich, und ich schäme mich nicht dafür.

christian.seiler@kurier.at

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