Hinterm Stadtpark endet die Welt

Hinterm Stadtpark endet die Welt
Landstraßer Hauptstraße 1 bis Heinrich-Drimmel-Platz: 5.400 Schritte

Ich gehe die Landstraßer Hauptstraße entlang, stadtauswärts. Wo sie heute beginnt, zwischen „Hilton“ und dem Bahnhof „Wien Mitte“, ist sie bloß die neueste Schicht Stadt, die Glasur auf einer bewegten Vergangenheit. Auf Nummer zwei standen einmal die Großmarkthallen. Der Wienfluß war noch unreguliert, und die heutige Promenade war das Hafenbecken des Wiener Neustädter Kanals, später ein Eislaufplatz.
Als die Stadtbahn gebaut wurde, entstand in Tieflage die Station „Hauptzollamt“. Die wurde, als 1962 die Schnellbahn und 1978 die U-Bahn hier andockten, in „Wien-Mitte“ umbenannt. Natürlich denke ich an den vor ein paar Jahren abgerissenen Bahnhof mit seiner jämmerlichen, blauen Glasfassade, als ich hier vorbeigehe, und mir fällt reflexartig Ernst Moldens wunderbares Wienlied ein, dessen schönste Zeile lautet: „Durch die Halle vom Bahnhof knattern die Tauben/und hinterm Stadtpark endet die Welt.“
Bis zum Rochusmarkt fühlt sich die Landstraße an wie Berlin vor der Entdeckung durch die Schwaben. Die Trottoirs sind breiter als sonstwo in der Stadt. Zahlreiche Lokale haben ihre Schanigärten hinausgestellt, und ich mag die Mischung zwischen der Eleganz schicker Hütten wie der Joseph-Bäckerei (die mit ihrem Sauerteigbrot meine Lebensqualität ernsthaft verbessert) mit der unaufgeregten Normalität von unauffälligen Brötchen-, Filterkaffee-, Pizzahütten oder Eisdielen.
Ich schlendere dann über den Rochusmarkt und stelle fest, dass mir die Gemüsehandlung von Frau Lorenz noch immer fehlt und dass hier schon bald eine neue Mall eröffnet, als ob die jemand bräuchte. Ich bleibe stehen, um den Tagdieben und Frühaufstehern zuzuschauen, die hier bereits um halb zehn etwas Paniertes vom Radatz holen. Mir schlägt das Herz höher, wenn die schönen Plätze der Stadt keine Türsteher brauchen wie die Rooftopbars im Ersten.
Dann gehe ich weiter Richtung Simmering. Schnell wird die Straße ein bisschen herber. Geschäfte für Verpackungen, Beerdigungen, Autoersatzteile lösen die Delikatessenläden und HiFi-Shops ab. Die Häuser sind nicht mehr so hoch wie dort, wo die Landstraße noch ein Boulevard ist, aber kaum ein Gassenladen steht leer, und auch die Wirtshäuser, die sich betont unschick geben, sind gut frequentiert. Hier wird gelebt.
Die Landstraße ist hier kein harmonisches Ensemble. Lakonische Zweckbauten der Fünfziger-, Siebzigerjahre und Neunzigerjahre drängen sich in Baulücken der ehemaligen Vorstadt, und als ich das „Gartenhotel Gabriel“ und den „Hofer“ an der Ecke zur Schlachthausgasse passiere, bin ich schon in einem anderen Wien angekommen, wo die Landstraßer Hauptstraße sich nämlich in eine tosende Verkehrsmaschine verwandelt, sich von Lebensraum zu Infrastruktur verändert und, als ich sie streicheln will, nach mir schnappt wie ein wütender Hund.
Eingeschüchtert gehe ich weiter Richtung Wildgansplatz und folge der Landstraßer Hauptstraße bis zum Arsenal, wo sie würdelos in den Heinrich-Drimmelplatz mündet. Sie hätte ein besseres Ende verdient.
Zum Glück hat sie ja zwei.

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