Friedhof der Namenlosen

Friedhof der Namenlosen
Alberner Hafenzufahrtsstraße – Friedhof der Namenlosen – Uferweg – Hafen: 14.500 Schritte

Ich gehe, weil mir in der Stadt zu viel los ist, ins Allerheiligenland des Alberner Hafens. Bekanntlich befindet sich dort, ein Stück hinter der Alberner Hafenzufahrtsstraße in einer Senke hinter dem Hochwasserdamm, der Friedhof der Namenlosen. Jedes Jahr zu Allerheiligen wird dieser kleine Friedhof entdeckt, und jemand erzählt die Geschichte der Menschen, die in der Donau ihr Ende gefunden haben und hier in der Nähe, wo der Fluss vor dem Hafenbau einen Strudel ausgeprägt hatte, ans Ufer geschwemmt wurden.
Ich gehe gern über Friedhöfe. Der St. Marxer Friedhof ist der schönste, der jüdische Friedhof in der Seegasse der interessanteste, der Zentralfriedhof der lebendigste. Der Friedhof der Namenlosen ist der traurigste. Das beginnt damit, dass fast fünfhundert Tote, die zwischen 1840 und 1900 hier geborgen wurden, mit einem gemeinsames Kreuz vorlieb nehmen müssen, weil ihre Gräber vielfach überschwemmt und längst vom Auwald überwachsen sind.
Für die später Verstorbenen erzählt das Ensemble aus identischen Kreuzen mit dem Schildchen „Namenlos“ seine mysteriösen Geschichten, und es fällt schwer, nicht  Fantasien zu entwickeln, Fantasien vom patscherten Unglück, wenn ein besoffener Matrose ins Wasser fiel und sein Schiff nicht anhielt; Geschichten vom romantischen Unglück, wenn das junge Mädchen guter Hoffnung war und deshalb glaubte, ins Wasser gehen zu müssen; ungesühnte Kriminalfälle mit unbekannten Opfern und ebenso unbekannten Tätern. Mein Freund Ernst Molden hat darüber ein schaurig-schönes Singspiel namens „Hafen Wien“ geschrieben, der Ort hat danach verlangt.
Vom Parkplatz bei den Getreidespeichern beginne ich meinen Weg Richtung Friedhof. Erstaunt sehe ich Lkw mit iranischem Kennzeichen. Der Welthandel bleibt für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Hier werden Baustoffe, landwirtschaftliche Produkte und Stahlerzeugnisse umgeschlagen, aber wenn sie in den Iran sollen, warum fahren sie die Donau nicht viel weiter stromabwärts? Wahrscheinlich „aus Gründen“ – meine Lieblingsformulierung dieses Jahres, weil sie so amtsdeutsch darauf hinweist, dass etwas nicht willkürlich passiert, sondern aus Motiven, die dich nicht weiter zu interessieren haben.
Vorbei an der Auferstehungskapelle gehe ich und verweile diesmal mit meinen Blicken nur kurz bei den Namenlosen. Mache mich auf zu einem Uferspaziergang, vorbei am geschlossenen Wirtshaus, dem Treppelweg entlang, aufgestellter Kragen, weil es kalt ist, über die Stadtgrenze nach Niederösterreich und der Donau entlang Richtung Flughafen, ein Flugzeug nach dem anderen senkt sich Richtung Schwechat, während ich völlig allein ausschreite, beim Atmen weiße Wolken produziere, die versperrten Kabanen der Fischerkolonie bewundere und immer weiter gehe, bis sich die Schritte leicht anfühlen und die Gegenwart des Stroms etwas Kollegiales hat, nicht wahr, wir zwei, unterwegs Richtung Osten. Momente, wenn weiterzugehen das einzige Richtige zu sein scheint, und ich gehe weiter, bis ich schließlich umkehre. Aus Gründen.

christian.seiler@kurier.at

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