„draussd en da ungagossen fiachd se da nulla“
Ich gehe durch die Ungargasse, sie entspannt mich. Der Klang ihres Namens ruft zwar ein gewaltiges Bedeutungsecho auf, Verbindung des römischen Militärlagers Vindobona mit der Zivilstadt, Herkunft des Namens aus dem 15. Jh., als entlang des geschwungenen Wegs Wirtshäuser und Unterkünfte aufsperrten, die vor allem von ungarischen Kaufleuten und Viehhändlern frequentiert wurden. Über allem schwebt jedoch die Erinnerung an Ingeborg Bachmanns
Roman „Malina“, dessen Hauptfiguren hier auf Nummer 6 und Nummer 9 wohnten. Mein Weg stadtauswärts ist also literaturgeschichtliches Aufmarschgebiet.
Auf Nummer 6 wohnte übrigens nicht die Bachmann selbst, nur die Ich-Erzählerin aus Malina. Die Autorin residierte um die Ecke in der Beatrixgasse. Im Roman steht dazu: „Noch nie hat jemand behauptet, die Ungargasse sei schön.“ Dem kann ich nur zustimmen, obwohl es gerade die visuelle Ereignislosigkeit der Straßenschlucht ist, die mich entspannt, und ihre funktionierende Normalität, die Mischung aus Klosterausspeisung, Bibelgesellschaft, Rauchercafé, Privatopernhaus und weiteren historisch bedeutsamen Ecken.
Wussten Sie zum Beispiel, dass im Haus an der Ecke Ungargasse – Beatrixgasse ein gewisser Beethoven seine „Ode an die Freude“ schrieb? Es ist eine durchaus erhebende Vorstellung, vor nämlichem Haus zu stehen, darauf zu warten, dass die Ampel auf Grün springt und dabei hinter dem offenen Fenster im 1. Stock Beethoven persönlich zu imaginieren, wie er hastig kritzelnd die Noten zu Schillers Text auf das Notenblatt wirft.
Gegenüber auf Nummer 6 ist inzwischen Bachmanns berühmtes Zitat für uns Passanten festgehalten. Es hüllt die Gasse spontan in eine Wolke aus poetischer Feierlichkeit: „Mein Königreich, mein Ungargassenland, das ich gehalten habe, mit meinen sterblichen Händen.“
Der O-Wagen rast vorbei, und augenblicklich fällt mir das nächste Literaturzitat ein. Es stammt von Ernst Molden und feiert das nahe „Café Malipop“, wo seit Urzeiten nur Musik von Vinylschallplatten gespielt wird, laut und in das metallische Blau der Rauchwolken, die über jedem Tisch stehen. „draussd en da ungagossen fiachd se da nulla / foad um die eggn und mochd blaue blitz / wäu in da ungagossn schbugd heid de bachmann / kummd aus an hausdoa und dazöd an witz“. Allein beim absurden Gedanken, die Bachmann könnte jemals einen Witz erzählen, muss ich kichern.
Stimmt, die Bachmann hat auch geschrieben, die Gasse „macht sich mit kleinen Kaffeehäusern und vielen alten Gasthäusern nützlich“. Da hat sich einiges geändert, nicht nur zum Guten. Zwar läuft der Seidl-Wirt auf Nummer 63 dauerhaft zu Hochform auf und dass das Benkai, einer von Wiens besten Japanern, gleich gegenüber auf Nummer 65 nach jahrelangem Verschwinden wieder aufgesperrt hat, ist ein echtes Glück. Sonst: ein bisschen italienisches Essen, ein Veganista-Eissalon, allerhand Brauchbares, aber Unspektakuläres, und genau das macht mir jede Passage durch die Ungargasse zum kleinen Hochamt jenes Wien, das es fast nicht mehr gibt. Aber hier eben doch.
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
Die Original-Illustrationen zur „Gehen“-Kolumne kann man jetzt auch kaufen! Alle Infos auf https://alexandraklobouk.com
Kommentare