Der Wientalkanal - eine Kathedrale der Unterwelt
Ich gehe vom Tag in die Nacht, steige vom Stadtpark, den die Sonne mitleidig auskleidet, ab in die
Unterwelt Wiens. Zuerst klettere ich über eine Leiter in ein Loch im Boden, dann komme ich in ein Stiegenhaus, das Stockwerk um Stockwerk vierzig Meter in die Tiefe führt. Hier führt die gewaltige Röhre des Wientalkanals unter dem Wienfluss bis in den fünften Bezirk.
Der Wientalkanal ist eine Kathedrale der Unterwelt. In zwei Bauabschnitten zwischen 1997 und 2006 errichtet, dient die 3,5 Kilometer lange Röhre der Entlastung des Wienflusses. War bei Starkregen bis dahin Schmutzwasser aus den beiden Wiental-Sammelkanälen in den Fluss ausgetreten, fließt es jetzt über Entlastungswehre in den unter dem Wienfluss liegenden Wienflusskanal ab.
Ein Mal im Jahr wird die gewaltige Röhre, die 110.000 Kubikmeter Abwasser fasst, gewartet. Dann ist sie leer, ausgepumpt, ein Tunnel, der begangen werden kann. Also gehe ich, einen roten Helm auf dem Kopf, inmitten einer Gruppe von Mitarbeitern des Wienkanals und Guides der empfehlenswerten „Dritter Mann Tour“, vom Stadtpark Richtung Secession. Es ist dunkel, nur die Lichtkegel der starken Taschenlampen wandern über die Rundungen der Röhre und weisen den Weg. Auf dem Boden des Rohrs ist es rutschig. Restwasser ist stehen geblieben. Der Betriebsleiter erläutert technische Details: Pumpenfunktionen, die Architektur des Kanalnetzes, die Sicherheitsvorkehrungen, damit niemand hier unten vom anschwellenden Wasser überrascht werden kann. Wir gehen an Zuleitungen von gewaltigem Querschnitt vorbei. Bei Starkregen, sagt der Betriebsleiter, stürzt hier das Wasser in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit herunter, füllt die Röhre in wenigen Minuten an. An der Wand hängen beleuchtete Pfeile, die den Fluchtweg zum nächsten Ausstieg weisen.
Wir steigen am Karlsplatz wieder ans Tageslicht, viele Stockwerke nach oben.
Was ich erkennen kann: Unter der Stadt befindet sich eine Stadt. Bäche, Wasserläufe und Kanäle sind zu einem komplizierten, dreidimensionalen Netzwerk verbunden, das zum guten Teil aus dem 19. Jahrhundert stammt. Ich muss den Kopf einziehen, als ich mir diese pittoresken Wasserläufe anschaue, die stets im Verborgenen liegen.
Dann führt mich mein Guide Josef Gottschall durch ein sonst vergittertes Tor hinaus in das majestätische Gewölbe, durch das der Wienfluss fließt. An der Wand ein Hinweis: Harry Lime, der Dritte Mann. Ein paar in den Boden eingelassene Sterne, die von anderen Filmproduktionen berichten, „Abrakadabra“, „Maikäfer, flieg“.
Wir gehen jetzt den Wienfluss entlang Richtung Stadtpark. An den Rändern des Flusses stapeln sich Eisschollen. Dreck liegt herum. Ein toter Fisch. Ein paar Ratten trollen sich widerwillig.
Ich bin froh, einen Führer und eine Taschenlampe zu haben. Es ist so faszinierend wie unwirtlich hier, ich höre von zahlreichen Unfällen, die schon passiert sind, Feuerwehreinsätzen, Rettungsaktionen, und widerrufe meine Ankündigung von vor ein paar Kolumnen: Allein sollte sich Wiens Unterwelt niemand erobern – schon gar nicht ich.
Kommentare