Christian Seilers Gehen: Der Impuls, einen neuen Weg zu gehen
Die Abenddämmerung lockt mich aus dem Wald. Gerade bin ich in Gedanken die Belvedereallee vom Lusthaus Richtung Südosttangente gegangen, als ich bemerke, wie spektakulär der Sonnenuntergang gerade ist. Ich biege von meinem geplanten Weg ab, weil ich das Schauspiel besser sehen will, nehme die steilen Stufen auf den Gaswerksteig, unter dem die A4 jede Menge Lärm machte, und sehe mit offenem Mund dabei zu, wie sich die Farben der Abenddämmerung vor mir auffalten, zwischen Chiffongelb und Karmesinrot alles im Angebot.
Als ich den Steg bei der Erdbergstraße verlasse, überfällt mich der Impuls, einen neuen Weg zu gehen. Es ist eines der größten Privilegien beim ziellosen Flanieren, sich an keine Regeln halten zu müssen, ständig die Meinung ändern zu dürfen und einfach jeder Laune zu folgen, die einen plötzlich überkommt. Ich gehe an ziemlich großen Parkplätzen auf der Erdbergstraße stadtauswärts, dann biege ich zu den Gasometern ab, die jetzt im Halblicht kostbar funkeln. Sie gehören längst zu den stolzen Zeugen der Wiener Stadtentwicklung, Stichwort: Stararchitekten wandeln Industrie- in Wohnraum um.
Dabei sind sie auch beredte Industriedenkmäler. Sie erinnern an die Zeit, als das Gaswerk Simmering, erbaut nach Vorbildern der englischen Industriearchitektur in Sichtziegelbauweise, zuerst die gasbetriebene Stadtbeleuchtung Wiens speiste. Später lieferte es dann auch das Stadtgas in viele Wiener Wohnungen, wo es zum Kochen und Heizen verwendet wurde.
Zum 1899 eröffneten Gaswerk gehörte ein 300 Meter langes Ofenhaus, der Wasserturm mit seiner elegant geschwungenen Kuppel, diverse Werkstätten, Aufenthalts- und Verwaltungsgebäude. Nicht zufällig heißen die Gassen auf dem Gelände auch heute noch Direktionsstraße, Anlieferungsstraße oder, sympathisch, auch Werxkuchlstraße.
Inzwischen haben die „Wiener Netze“ die Anlage übernommen. Ein Zaun aus massiven Metallstäben grenzt das Areal nach außen ab. Vom historischen Gaswerk sind die Verwaltungsgebäude und der denkmalgeschützte Wasserturm stehen geblieben, aber der neue Stolz der Wiener Netze ist der sogenannte „Smart Campus“, ein riesiges Gebäude nach Passivhausstandard, wo unter anderem die Steuerzentralen für Strom, Gas und Fernwärme untergebracht sind.
Als ich die Otto-Herschmann-Gasse entlanggehe, sehe ich durch den Zaun, wie vor einem Denkmal für die Opfer der Weltkriege eine hohe Flamme aus einer Schale lodert, zur Erinnerung. Plötzlich überwältigt mich das Pathos des Feuers, das wohl von einer Gasdüse gespeist wird. Erinnert mich an das allgegenwärtige Kerzenlicht auf Wiens Friedhöfen nach Allerheiligen, an die neuen Andachtstätten an den Schauplätzen des Attentats vom Allerseelentag, an die Ungewissheit, wann und wie unser Leben zurückfinden wird zu dem, was wir ein Leben lang für normal gehalten haben. Und erst, indem ich weitergehe, Schritt für Schritt, zurück ins Licht der Straßenlampen, in den Verkehr, merke ich, dass Weitergehen die einzige Therapie gegen das Stehenbleiben ist.
christian.seiler@kurier.at
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