Christian Seilers Gehen: Wir verstehen uns. Danke.

Christian Seilers Gehen: Wir verstehen uns. Danke.
Botanischer Garten Haupteingang – Ginkobaum – Ausgang Alpengarten – Belvederegarten – Rennweg – Schwarzenbergplatz: 2.400 Schritte

Ich gehe ein bisschen zu spät durch den Botanischen Garten, es ist gegen drei Uhr Nachmittag. Die Sonne steht schon tief. Sie wärmt zwar die Flaneure, die im Belvederegarten einen Platz auf einer der zahlreichen Bänke ergattert haben, aber sie verfängt sich nur noch in den bunten Kronen der ausgewachsenen Bäume des Botanischen Gartens, der mir immer mehr ans Herz wächst, seitdem meine Reisen mich vor allem in die Nähe führen, kaum mehr über Österreichs Grenzen hinaus.
Wobei, was soll das heißen, Nähe? Im Botanischen Garten wachsen und gedeihen Bäume, Sträucher, Stauden und Blumen, die ursprünglich an ganz anderen Orten der Welt zu Hause waren, sich aber unter der Fürsorge der für sie zuständigen Gärtner gut eingefunden haben im ehemaligen Medizinalpflanzengarten, der 1754 auf Anregung von Kaiserin Maria Theresia angelegt worden war.
So blühen im Frühjahr iranische Birnbäume besonders prächtig, heißen knallbunte Rhododendren den Sommer willkommen, und jetzt, im Herbst, zeigen die unverdrossenen Dahlien auch im grauen Nebel ihre bunten, komplexen und verführerischen Blüten.
Vor einem mächtigen Baum mache ich halt. Er steht direkt an der Allee, die vom Haupteingang des Gartens hinauf zum Alpengarten führt. Es ist ein Ginkobaum, dessen Laub gerade sein helles, sommerliches Grün gegen das herbstliche Gelb tauscht. Viele Blätter hat er schon abgeworfen. Ich nehme eines in die Hand, betrachte seine spezielle zweigeteilte Form, die in der Pflanzenwelt kein zweites Mal vorkommt.
Die Form des Ginkoblattes wird in Japan schon lang mit dem Symbol des Yin-Yang identifiziert. Der Baum gilt als kraftspendend und lebensverlängernd, Chinesen und Japaner verehren ihn als heilig. Schwangere Frauen bitten unter dem Ginkobaum um Milch, damit sie ihre Kinder stillen können. Bauern beten vor dem Ginkostamm um eine reiche Ernte.
Ich erinnere mich daran, dass auch der große Goethe in seinem „West-östlichen Diwan“ dem Ginkobaum ein Gedicht gewidmet hat, das ich jetzt auf dem Handy aufrufe und leise murmelnd, aber doch vernehmlich ablese, als wäre ich ein Bauer, der um Regen bittet. Dabei würde ich lieber ein bisschen mehr Sonne bekommen.
„Dieses Baumes Blatt, der von Osten / Meinem Garten anvertraut, / Gibt geheimen Sinn zu kosten, / Wie’s den Wissenden erbaut. / Ist es ein lebendig Wesen, / Das sich in sich selbst getrennt? / Sind es zwei, die sich erlesen, / Dass man sie als eines kennt? / Solche Fragen zu erwidern / Fand ich wohl den rechten Sinn. / Fühlst du nicht an meinen Liedern, / Dass ich eins und doppelt bin?“
„Sehr schön“, sagt eine Stimme hinter mir. Ich erschrecke, drehe mich um, schaue in das Gesicht einer älteren Dame, die mich wissend anlächelt, mir anschließend zunickt und weiterschlendert. Offenbar hat sie meinem leisen Vortrag gelauscht, den ich gerade abgeliefert habe, „eins und doppelt“ zugleich. Kurz bleibt sie stehen und sagt: „Kommen Sie doch am Vormittag. Dann scheint auch hier die Sonne.“ Wir verstehen uns. Danke.

christian.seiler@kurier.at

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