Christian Seilers Gehen: Wien ist viele Städte
Ich wollte eigentlich einen kleinen Spaziergang durch den Lainzer Tiergarten machen, aber als ich in Hütteldorf das Nikolaitor verschlossen antraf, erstaunt wie eine Handvoll anderer Möchtegern-Wanderer, fiel mir mühelos eine Alternative ein. Es führt doch ein Weg rund um den Lainzer Tiergarten, 23 Kilometer der Tiergartenmauer entlang, fast 800 Höhenmeter, und auch wenn ich ausschloss, heute die gesamte Distanz in Angriff zu nehmen – es war schon früher Nachmittag, die Nacht beginnt ja um diese Jahreszeit praktisch direkt nach dem Mittagessen –, so wollte ich wenigstens ausprobieren, wie weit ich kommen würde, wendete mich nach links und marschierte los, Richtung Himmelhof.
Auf der Markwardstiege warteten gefühlt gleich einmal die ersten paar hundert Höhenmeter, jedenfalls kam ich oben bei der Himmelhofwiese schon schweißnass an, was mich nicht hinderte, den wunderbaren Blick über die Stadt zu genießen, weit und flächig, gegliedert durch die unübersehbaren Landmarks an der Donau, in Wien Mitte oder auf dem Wienerberg.
Ich ging weiter, und das Leitmotiv dieser Wanderung war mir schnell klar: Es waren die Kleingärten und Kleingartenbebauungen, die sich an den äußersten Rand des 13. Bezirks quetschten und aus den verordneten Bebauungsflächen das Maximum herausholten. Ich sah, als ich vom Himmelhof zum Hagenberg und weiter zur Lindwurmwiese ging, schon sehr bemühte architektonische Hervorbringungen im Taschenformat, und als ich nach weiteren hundert durchindividualisierten Schrebergartenhäusern das St. Veiter Tor und die Saulacke passiert hatte, kam ich auf den sogenannten „Kleinen Ring“, wo mir zwischen Villen und Bungalows sogar ein ausgewachsenes Jugendstildomizil begegnete.
Ich widerstand der Verlockung, das geöffnete „Lainzer Tor“ zu benützen, um doch noch in den Genuss des herbstlichen Tiergartens zu kommen, und wählte stattdessen den erneuten Aufstieg der Treumanngasse, bis diese in die Modl-Toman-Gasse überging und Wien plötzlich entschieden kleinstädtisch präsentierte, städtische Siedlung am Wienerwald, von Großstadt keine Spur. Ich bog in die Wittgensteinstraße ein und näherte mich dem Maurer Wald. Hinter hohen Zäunen zeigten sich die Wasserschlösser der hier verlaufenden Hochquellenwasserleitung, und erste Weinberge kleideten die Stadt elegant und bunt.
Hier verließ ich die Tiergartenmauer mit dem Versprechen, bald zurückzukommen. Ich spazierte durch den lichten Mischwald, bis ich zur Wotrubakirche kam, der ein kleiner Zubau einen Zugewinn an Benutzerfreundlichkeit verschafft hat. Ich marschierte vom Georgenberg zur Haymogasse, die quer durch Mauer hinunter nach Atzgersdorf schneidet, und ich sah teures und elegantes und altvatrisches und biedermeiermäßiges Wohnen, wie immer in Wien direkt nebeneinander, bis die ersten Gemeindebauten auftauchten und mich über interessante Umwege hinunter nach Atzgersdorf geleiteten.
Dort wartete ich auf die S-Bahn zurück in die Stadt und wusste wieder einmal: Wien ist nicht eine, Wien ist viele Städte. Wie schön.
christian.seiler@kurier.at
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