Christian Seilers Gehen: Wahrscheinlich Kunst
Brauchen Wanderungen ein Ziel? Nicht unbedingt. Wenn es allerdings ein Ziel gibt wie den Skyspace oberhalb von Oberlech am Arlberg, dann verändern sich auch die Wanderungen. Der Hinweg beginnt mit einer Verheißung. Der Rückweg wird federleicht, von einem sanften Glücksgefühl veredelt (und vielleicht auch von der Tatsache, dass es meistens bergab geht).
Meine Wanderung begann in Zug, einem Ortsteil etwas außerhalb von Lech. Ich logierte in der Roten Wand, einem Hotel, das in Wahrheit ein kleines Dorf ist. Von dort nahm ich den Fußweg Richtung Lech – die mit pinken Wegweisern kenntlich gemachten Winterwanderwege zählen zum Schönsten, was ich in den Alpen kenne. Ich kam also weder Skiläufern noch Langläufern in die Quere, durchquerte das Ortszentrum, ohne von magnetischen Kräften in eines der Luxuskaufhäuser gesaugt zu werden, entschied mich nach kurzer Selbstbefragung gegen eine Abkürzung des Wegs nach Oberlech durch eine Seilbahn und wählte den kürzeren, dafür steileren Anstieg über den Ortsteil Burg.
Klar schwitzte ich, und klar schaute ich ein bisschen neidvoll auf die kernigen Bergbewohner, die mich im Laufschritt überholten, weil sie jede Besorgung zu Fuß verrichten und sich dafür mit jeweils 300 Höhenmetern belohnen. Als ich dann auf der Sonnenplattform Oberlech ankam, ins Tal hinunterschaute und mit einem kleinen Glücksgefühl die frische Bergluft durch meine Nüstern einzog, erinnerte ich mich erst wieder daran, wie gut es sich anfühlt, die fünf Minuten in der Gondel durch 45 Minuten Bergaufgehen zu ersetzen. Die Schönheit des Panoramas kommt dir frischer, lebensechter vor. Vielleicht hast du auch nur das Gefühl, den Anblick wirklich verdient zu haben.
Aber ich war noch nicht am Ziel. Folgte den schlichten Wegweisern, die mich vorbei an Millionärs-Chalets, aber auch Ställen, die aussehen wie Millionärs-Chalets, hinauf an die Peripherie des Skigebiets führte, bis ich, harmonisch in die Landschaft gesetzt, mein Ziel erkannte: den mit Natursteinen in den Hang gebauten Skyspace des amerikanischen Künstlers James Turrell.
Als ich ankam, war ich allein. Ich betrat durch einen schlauchartigen Gang das ovale Innere des Raums, setzte mich und betrachtete den elliptischen Ausschnitt in der Decke, durch den ich den Himmel sah – oder besser: den Ausschnitt des Himmels, der mir gerade wie ein Bild zur Verfügung stand, tiefblau, nur einzelne Federwolken steuerten leichte, weiße Schraffierungen bei.
Ich empfand vom ersten Augenblick an – wie immer beim Betrachten von Installationen Turrells – tiefe Ruhe. Der Anblick des Himmels, die Sitzposition mit dem weit in den Nacken geneigten Kopf, entwickelten eine hypnotische Wirkung, die mich aus der Zeit katapultierten. Keine Ahnung, wie lange ich schon dagesessen war, als mich das Geklapper von Skischuhen auf Stein aus den Träumen riss.
„Was soll das hier?“, fragte ein junger Mann, dem offenbar etwas fehlte, vielleicht die Bar. „Wahrscheinlich Kunst“, sagte seine Begleiterin. „Komm, gehen wir.“
Danke. Ich blieb noch.
christian.seiler@kurier.at
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