Christian Seilers Gehen: Unterwegs in Italien. Ha, wer braucht denn hier ein Sicherung.
Zuerst die Stiegen bergauf, von Camogli nach San Rocco, und wer dort oben nicht schwitzt, ist diesen Weg noch nicht gegangen. Ich versorgte mich in der fabelhaften Pasticceria mit Wasser und frisch gebackener Focaccia, dann dachte ich darüber nach, ob ich den Ratschlag der jungen Frau an der Rezeption meines Hotels wahrnehmen sollte, die mich davor gewarnt hatte, den küstennahen Weg nach San Fruttuoso auszuprobieren, weil dieser Weg nicht ganz ohne sei.
Nicht ganz ohne? Was dachte die Dame eigentlich? Stamme ich aus einem Alpenland, oder was? Klar nahm ich den Küstenweg, freute mich an den Blicken von den Höhen der Halbinsel von Portofino, deren nordwestliche Höhen ich durchschritt, und dachte mir auch nichts dabei, als sich hinter Batterie die Warnungen zu mehren begannen. Achtung, steil. Achtung, ausgesetzt. Bitte nur erfahrene Berggänger. Nachdem ich die spektakulären Bunker und Geschützstände aus dem Zweiten Weltkrieg inspiziert hatte, nahm ich voller Selbstbewusstsein den schmalen Pfad durch das krautige, von knotigen Bäumen und Sträuchen gesäumte Unterholz, kam zu einer felsigen Stelle, die von einer Kette gesichert war, ha, wer braucht denn hier eine Sicherung, lachte in mich hinein, und gerade als ich ernsthaft der Meinung war, dass ich praktisch schon am Ziel sei und bereits den Tonfall einstudierte, in dem ich der Rezeptionistin davon berichten würde, fiel der Fels vor mir so abrupt und steil ins Meer ab und verengte sich der Steg zusehends, dass ich erstmal stehenblieb, zweitens begann nachzudenken und drittens, na gut, dann nicht, umdrehte. Nur zur Erklärung: Jede minderbegabte Alpinkatze hätte tatsächlich über die Herausforderungen an der Südseite der Halbinsel gelacht, aber ich bin als Alpinist eben nicht einmal minderbegabt, und die Strafe ließ nicht lang auf sich warten. Ich musste über einen abenteuerlich steilen Weg zur nächsten Bootsanlegestelle an der Punta Chiappa absteigen, stöhnend über die hohen Stufen – und verfluchte mich für meinen Übermut.
Nach San Fruttuoso kam ich trotzdem, wenn auch erst am nächsten Tag. Wieder über die Stiegen nach San Rocco, schwitz, dann diagonal durch den Nationalpark von Portofino, vorbei an Gärten, Hütten und Freiluftkapellen, Blicke hinüber nach Santa Margherita, zu den Dörfern, die triumphal auf den Rücken der kühnen Hügel sitzen, auch an der einen oder anderen Wandergruppe vorbei und schließlich, auf dem unvermeidlichen Abstieg nach San Fruttuoso, wieder allein.
San Fruttuoso ist ein Klosterkomplex, gegründet zur Zeit der Adelheid von Burgund gegen Mitte des neunten Jahrhunderts, ein bewegendes Bauwerk am Ende einer kleinen Bucht ohne Straßenzufahrt. Auf dem Meer schaukeln Boote, unter dem Wasser befindet sich eine Christusstatue für alle Ertrunkenen, und weil es Sonntag war und die Sonne schien, tummelten sich hier Familien und Touristen gemeinsam am Strand, bunt und laut und gut gelaunt und molto molto italiano.
Ich gönnte mir eine Aranciata und machte mich auf den Rückweg, diesmal aber auf dem Rücken des Ausflugsboots.
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
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