Christian Seilers Gehen: So gut kocht nicht einmal der liebe Gott
Ja, ich gebe zu, dass ich den Anstieg von Bozen hinauf zum Patscheider Hof nicht zu Fuß in Angriff nahm. Ich hatte einen Klotz am Bein, der nie und nimmer einsehen wollte, warum man von Bozen nach Oberbozen zu Fuß gehen soll, wenn es doch eine Seilbahn gibt, die schnell und bequem die 950 Höhenmeter bewältigt.
Der Klotz hat auch einen Namen. Er heißt Roland Trettl. Er ist von hier. In Oberbozen, unweit der Bergstation der Gondel, die wir gerade bestiegen haben, hat er seine Lehre als Koch absolviert, bevor er zu Eckart Witzigmann nach München ging, dessen rechte Hand wurde und auf Mallorca, in Tokio und zuletzt elf Jahre im Hangar-7 Sterneküchen leitete. Dann besann sich Trettl seines Talents als Entertainer und wurde Fernsehstar. Auf VOX moderiert er diverse Shows, unter anderem die enorm erfolgreiche Datingshow „First Dates“. Aber der Berufswechsel hat seine übergeordnete, menschliche Fähigkeit nicht beschädigt: qualifizierten Hunger zu haben. „Diese Knödel ...“, flüstert Trettl, während wir von Bozen in die Höhe schaukeln. Dann vergisst er leider weiterzusprechen und starrt versonnen ins Leere. „Was ist mit den Knödeln?“, frage ich nach einer angemessenen Pause. Trettl strafft die Schultern und sagt: „Du machst dir keine Vorstellungen, wie gut diese Knödel sind …“ Nun verfügt Trettl über ein beachtliches Selbstbewusstsein, namentlich am Herd, also frage ich ihn: „So gut wie die, die du selbst kochst …?“ Er schaut mich an wie ein Gespenst. „Bist du von Sinnen? Versündige dich nicht! So gut kocht sie nicht einmal der liebe Gott.“
Das Ziel unserer Wallfahrt ist also der Patscheiderhof. Aber während sich Trettl dorthin chauffieren lässt, wähle ich den recht bequemen, leicht abwärts führenden, etwa zweistündigen Fußweg, der immer wieder schöne Blicke hinunter in die Ebene zulässt und mich in meiner Einschätzung bestätigt, dass Südtirol in einem früheren Leben etwas richtig gemacht haben muss, um so belohnt zu werden: Sonne, Wein, Obst, Dolomitenblicke. Und natürlich Knödel.
Der Weg führt zuerst der Straße entlang, später querfeldein, durch Obstplantagen, Mischwald, über Aussichtsterrassen und Feldwege, bis schließlich nach zwei Stunden endlich der Ansitz „Patscheider Hof“ vor mir auftaucht.
Trettl ist natürlich schon da. Er sitzt unter einem mächtigen Kruzifix in der holzvertäfelten Stube. Er lächelt. Das heißt, er hat schon seine Vorspeise gegessen. „Setz dich“, sagt er. „Die Knödel kommen jeden Moment.“ Ein paar Minuten später, ich kann mir gerade noch den Schweiß von der Stirn wischen, stehen mehrere überdimensionale Teller vor uns, in denen sich Knödel in drei unterschiedlichen Farben befinden: tiefgrün vom Spinat. Blutrot von der Roten Bete und vom gelben Weiß eines jungen Käselaibs. „Das sind sie also“, sage ich überflüssigerweise, aber Trettl hört mich nicht. Er isst, tief über den Tisch gebeugt.
Zu den Knödeln des Patscheider Hofs ist Folgendes zu sagen (ich zitiere aus der hastig in mein Notizbuch gekritzelten Zusammenfassung des Essens, das nach den Knödeln noch grandiose Schlutzkrapfen, Rippchen und eine monumentale Schlachtplatte umfasste, Kaffee und Cremeschnitte sowieso): „Knödel: Besser als jeder andere Knödel, den ich jemals aß. Inklusive die von meiner Oma. Flaumig, intensiver Geschmack, vor allem aber eine Eleganz, die es sonst nur im abgefahrensten Fine-Dining gibt. Leider wahr: Trettl hatte recht!“
christian.seiler@kurier.at
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