Christian Seilers Gehen: „Servus. Wo warst du so lange?“

Christian Seilers Gehen:  „Servus. Wo warst du so lange?“
Bäckerstraße – Tuchlauben – Seitzergasse – Hoher Markt – Dominikanerbastei – Luegerplatz: 3500 Schritte

Ich bin in den Straßen von Wien zu Hause, wenigstens in manchen. Die Bäckerstraße zum Beispiel kann ich auswendig.
Am Anfang der Kontrollblick ins warm beleuchtete Café Engländer, könnte nämlich sehr gut sein, dass der eine oder die andere Bekannte hier gerade einen Imbiss nimmt, bei dem etwas Gesellschaft, zum Beispiel meine, durchaus willkommen wäre. Dann die von Kinderhand verschönte Passage rechts, in der nachts die Obdachlosen schlafen und die bierseligen Nachtvögel dafür sorgen, dass es riecht wie ein Fiakerpissoir; der Blick auf die Jesuitenkirche, für mich einer der schönsten Anblicke der Innenstadt, nur die Range Rovers, die hier parken, stören mich. Das Oswald&Kalb mit seinem wunderbaren Portal und dem sinnlosen Versuch, durch einen Hinweis, dass es HIER das beste Schnitzel Wiens geben soll, ein paar Kunden vom Figlmüller abzuschöpfen, wo die Schnitzelfresser Schlange stehen. Das Paremi, der französische Edelbäcker, in dessen Brioche ich mich unsterblich verliebt habe; der Morawa, wo ich täglich Stunden verbringen könnte – oder gibt es etwas Vielversprechenderes als das Blättern in Zeitschriften und Büchern, für deren Ankauf man sich möglicherweise entscheiden wird? Der Figlmüller, wo manchmal zwanzig, manchmal hundert Touristen Schlange stehen – weiß wer, warum sie das tun?
In welchen Reiseführern steht, dass man hier seinen Bröselteppich gesnackt haben muss? Ich schätze, im selben, wo auch das Café Central und der Bitzinger-Würstelstand als Highlights des kulinarischen Wien verkauft werden. Man lernt nicht aus, was alles möglich ist.
Natürlich bin ich nicht nur in den Straßen Wiens zu Hause. Manchmal braucht es auch eine Tür, die sich für mich öffnet, damit ich einen vertrauten Duft riechen kann oder eine vertraute Stimme hören, die sagt: „Servus. Wo warst du so lange?“
Denn erst das macht die Stadt zum Zuhause. Dieter, der Buchhändler in der Domgasse, fragt zum Beispiel: „Kaffee?“, und wenn ich nicht schnell genug „Ja“ sage, ergänzt er: „Oder Wein?“ Kommt drauf an, ob die blaue Stunde schon angebrochen ist, aber danke für die Nachfrage. Kann durchaus sein, dass ich gerade gar nichts will – außer gefragt werden, ob ich was will.
Ich mache also eine Runde durch die Innenstadt, schaue nach, ob in der Bar Campari ein besonders netter Kellner Dienst hat, nehme bei O boufés ein Radl Wurst, bei Alex Mayer einen Pfiff Bier, schaue, welche Kostbarkeiten Marco Simonis wieder herangeschafft hat, lasse mich von der Platane am Luegerplatz begrüßen und pfeife den Refrain des Lieds, das Ernst Molden für diesen merkwürdigen, großzügig verschrobenen Ort geschrieben hat.
Dann betrete ich habituell das Café Prückel. Nicht, weil hier irgendwer auf mich warten würde, nein, im Gegenteil. Die Prückel-Kellner sind Europameister im Vergessen von Stammgästen, aber gerade deshalb tauche ich hier so gern ein, verstecke mich hinter der Zeitung und starre hinaus auf die Ringstraße, Lichter, Bewegung, Dunst, Blumen. Lauter Versprechen. Lauter Gründe, Wien zu lieben.

christian.seiler@kurier.at

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