Christian Seilers Gehen: Rot sehen in Salzburg

Christian Seilers Gehen: Rot sehen in Salzburg
Getreidegasse – Festspielhausstiege – Mönchsberg-Terrasse M32: 5400 Schritte

Ich sitze auf dem Mönchsberg und genieße mein liebstes Dessert. Die Küche hat eine Kugel Vanilleeis mit einem Espresso zu etwas vermischt, was in Italien „Affogato“ heißt, und obwohl sich unter mir die barocke Altstadt von Salzburg ausbreitet, habe ich gerade nur Augen für das thermoästhetische Phänomen, wie der Kaffee die oberste Schicht der Eiskugel verflüssigt und auf dem Boden der Tasse eine interessante Zwischenfarbe begründet.
Als ich den Blick hebe, sehe ich rot. Ein chinesischer Tourist mit knallrotem Polohemd hat in Begleitung von drei Damen den Mönchsberg-Aufzug verlassen und sondiert direkt vor dem durchsichtigen Geländer der Terrasse Perspektiven. Nein, der Mann denkt nicht über das Leben nach. Er sucht den Platz, von dem aus er die Damen in seiner Gefolgschaft am besten fotografieren kann. Er will ihr Lächeln vorteilhaft mit den Wahrzeichen Salzburgs in ein Querformat packen. Von links: Kapuzinerberg, Salzach, Kollegienkirche, Festspielhaus, Residenz, Dom, die Festung Hohensalzburg, dazu als Bonus ein schönes Stück Salzburger Himmel mit weißen Federwolken.
Während sich vor ihm die Stadt dreidimensional entfaltet, ist der Fotograf nur an diesem Rechteck interessiert. Er fordert dessen Vordergrund auf, sich in Position zu begeben. Seine Anweisungen klingen eher derb als einfühlsam, als wiese ein Hirte sein Lamm an, nicht so deppert mitten auf der Straße zu stehen.
Gegen meinen Willen beginnt mich der Vorgang zu interessieren. Die Dame, die der Fotograf angesprochen hat, muss mit einem Blick in ihr Handy, das ihr als Taschenspiegel dient, noch den Glanz ihrer Zähne überprüfen und ein nur für sie sichtbares Stückchen etwas mit dem gepflegten Fingernagel entfernen. Als sie sich schließlich für das erste Probefoto in Position bringt, knipst sie aus dem Nichts ein so strahlendes Lächeln an, dass ich es nur zu gern auf mich bezogen hätte. Aber sie lächelt nicht mich an. Sie lächelt auch das rote Polohemd nicht an. Sie lächelt direkt in die doppelte Linse von dessen übergroßem Smartphone.
Ich verstehe, dass dieses Lächeln eine Investition in die Zukunft ist. Es befeuert die eigene Freude, wenn nach der Europareise die Bilder sortiert werden, die nicht nur zeigen, dass man in Salzburg war, sondern wie gut es einem dort gefallen hat.
Als alle drei Frauen ihr bestes Lächeln vor idealem Hintergrund geliefert haben, passiert etwas Unvorhergesehenes. Das Quartett begibt sich nicht etwa zur Entspannung auf die Terrasse des Mönchsbergmuseums, wo auch ich sitze. Nein, jetzt gibt der Herr mit Polohemd sein Smartphone weiter, setzt sich eine Pilotenbrille von Ray-Ban auf und wirft sich in exakt dieselbe Pose, die er den drei Frauen diktiert hat: linke Hand am Gelände, den Körper leicht schräg zum Hintergrund, Blick über die rechte Schulter direkt in die Linse. Nur das mit dem Lächeln nimmt er nicht so ernst.
Als auch dieses Bild gelungen ist, verschwinden die Vier dort, woher sie gekommen sind. Sie nehmen den Aufzug und fahren zurück in Salzburgs Erdgeschoß.

christian.seiler@kurier.at

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