Christian Seilers Gehen: Oje, das Haus des Meeres
Ich komme aus dem fünften Bezirk, wo ich im Café Rüdigerhof eine Pause eingelegt habe, um das Buch zu Ende zu lesen, das mich gerade so in den Bann geschlagen hat: „Sarah“ von Scott McClanahan, eine himmeltraurige und komische und tragische Liebesgeschichte mit einem Ich-Erzähler, der bestimmt nicht alle Tassen im Schrank hat, wenn ich das so sagen darf. Ich glaube schon, er sagt es ja selbst: „Ich weiß nur eine Sache übers Leben. Wenn du lang genug lebst, fängst du an, Dinge zu verlieren. Alles wird dir weggenommen: Zuerst verlierst du deine Jugend, dann deine Eltern, dann verlierst du deine Freunde, und am Ende verlierst du dich selbst.“
Wie immer ist es eine bittersüße Angelegenheit, ein Buch, das man mag, das einen beschäftigt, verzaubert, verwandelt, zu beenden. Ich lese eigentlich schnell, aber die letzten Seiten eines geliebten Buches lese ich langsam, unterwegs wie auf einem E-Bike ohne Akku.
Als mich das Ende trotzdem erreicht hat, seufze ich tief, zahle mein Soda-Zitron und spaziere ohne Ziel, zuerst über die Wienzeile, dann die Eggerthgasse bergauf, bis ich in die Luftbadgasse schauen kann, wo ich einmal für ein paar Monate gewohnt habe, aber daran denke ich nicht, ich denke an Scott und Sarah und an ihren kleinen, blinden Mops, der Mr. King heißt, ich gehe zur Kaunitzgasse hinüber und plötzlich, ich bin auf diese Begegnung kein bisschen vorbereitet, steht das Haus des Meeres vor mir und reißt mich brutal aus meinen Träumen. Nicht, dass an mir vorübergegangen wäre, dass die besten Architekturkritiker dieser Stadt am neuesten Umbau des ehemaligen Flakturms kein gutes Haar gelassen haben: „Autohaus in Bukarest“, „Faschingsmaske mit Ohren“, „baukulturelle Katastrophe“. Ich dachte mir also schon, dass es schlimm sein würde, aber trotzdem war ich nicht darauf gefasst, wie schlimm es wirklich ist.
Wo bis vor Beginn der Bauarbeiten die vielleicht imposanteste und ergreifendste Kunst-am-Bau-Arbeit der ganzen Stadt zu sehen gewesen war – Laurence Weiners mächtiger Schriftzug „Smashed to Pieces/in the still of the night“ – befindet sich jetzt eine Nullachtfünfzehn-Glasfassade im Blau von Halbstarkensonnenbrillen. Noch schlimmer aber finde ich, dass an der Fassade, die zur Schadekgasse zeigt, die Bemalung von Laurence Weiner paraphrasiert wird, nur dass dort keine bewegende, poetische Botschaft mehr steht, sondern schlicht: „Haus des Meeres“.
Es ist mir ein Rätsel, wie irgendwer den Einreichplan dieses an so exponierter Stelle stehenden Gebäudes genehmigen konnte. Ich erinnere mich an Thees Uhlmanns wunderbare Wien-Hymne „Zerschmettert in Stücke (im Frieden der Nacht)“, in der er am Beispiel dieses Orts das großartige Wien besingt, das aus Vergangenheit Zeitgenossenschaft macht und Aufgehobenheit. Und ich denke mir, wie labil dieses Gleichgewicht zwischen jetzt, morgen und damals ist, wenn wir nicht darauf achten, dass an den Knotenpunkten der Emotionen, von denen Wien bekanntlich seine Energie bezieht, solch unverzeihliche Fehler gemacht werden.
christian.seiler@kurier.at
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