Christian Seilers Gehen: Lucky Luke am Ende eines Abenteuers
Schade, dass ich mir nicht selbst dabei zusehen konnte, wie ich über den Döblinger Steg ging, während vor mir die Sonne das „Rot des Tages“ anknipste. Ich muss ausgesehen haben wie Lucky Luke am Ende eines Abenteuers, vielleicht ein bisschen weniger dürr, dafür ohne Cowboyhut und Ross.
Die Herbstsonne hatte mich vielleicht ein bisschen euphorisiert. Nicht mich allein übrigens, am Donaukanal hatten sich Hundertschaften von Menschen eingefunden, die das herbstliche Sonnenlicht nutzten, um die Melatoninproduktion ihres Körpers anzukurbeln. Ich sah, wie unterschiedlich Menschen mit der Veränderung der Außentemperatur umgingen, manche trugen Winterjacke und Schal, andere T-Shirts, wieder andere hatten sich sogar ihr T-Shirt vom Körper gestreift, um der Sonne einen Blick auf ihre interessanten Tätowierungen zu gestatten. Ein paar Sprayer übersprayten die Kunstwerke ihrer Vorgänger, und ich hielt mich ein bisschen mit der Rechnung auf, wie lange neue Lackschichten auf die steinernen Fassungen des Donaukanals aufgetragen werden können, bis der Kanal endgültig zugewachsen ist – ich kam zu keinem Ergebnis. Prognose: Es wird vermutlich noch etwas dauern.
Außerdem sprang mir ins Auge, wie viele Menschen es sich auf Parkbänken und Liegestühlen bequem gemacht hatten, um in der Sonne etwas zu tun, was sonst in der Öffentlichkeit kaum zu sehen ist: zu lesen. Dicke Bücher, dünne Bücher, Hardcovers, Paperbacks – habe ich Ihnen schon einmal davon erzählt, dass ich zwanghaft wissen muss, was jemand liest, der gerade über einen Scherz in seinem Buch hellauf lachen muss? Der Donaukanal war an diesem Nachmittag diesbezüglich ein Spießrutenlauf, weil ich mehrmals den Duck-Walk zur Aufführung bringen musste – gehen wie eine Ente, um herauszufinden, dass es Bücher von David Sedaris und Tommy Jaud waren, die für Heiterkeit sorgten. Danke dafür.
Mein Ziel lag tief im 19. Bezirk, deshalb nahm ich die ziemlich prächtige Fachwerkbrücke über den Donaukanal und marschierte anschließend weiter über den etwas weniger prächtigen Franz-Ippisch-Steg, der die Gleise der Wiener U-Bahn überquert und seinen Namen zur Ehren des Cellisten und Komponisten trägt, der 1939 zur Emigration nach Guatemala gezwungen worden war.
Ich blieb stehen. Mein Blick schweifte über die Schienenstränge stadteinwärts. Sie führten auf die Schattenrisse des AKH zu, das im Dunst des Hintergrunds aus der Stadtkulisse wuchs. Eine U-Bahn-Garnitur stand auf dem Abstellgleis und glänzte im Gegenlicht. Die Hundertwasser-Zwiebel des Müllverbrennungs-Schlots zwinkerte mir goldig zu. Der alte Stadtbahnbogen verlieh dem Panorama historische Tiefe. Nach allen ästhetischen Kriterien stand ich hier vor einer durchaus hässlichen Ansicht meiner Stadt. Aber der Augenblick wusste es besser. Er verwandelte die Infrastrukturwüste in ein irgendwie poetisches Geflecht aus Zielstrebigkeit und Resten von anarchischer Natur, die diesen Zielen ihr bloßes Dasein entgegensetzte.
Ich ging weiter. Ein Lüftchen kam auf. Ich war ein bisschen glücklich.
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
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