Christian Seilers Gehen: Leider kein Wirtshaus mehr an jedem Eck

Christian Seilers Gehen: Leider kein Wirtshaus mehr an jedem Eck
Ottakring U-Bahn – Hasnerstraße – U-Bahn Thaliastraße: 4000 Schritte

Ich ging von der U- und S-Bahnstation Ottakring Richtung Gürtel, nahm aber weder die Ottakringer noch die Thaliastraße, sondern die parallel angelegte Hasnerstraße, einen schnurgeraden, von Häusern mit überschaubarer Firsthöhe eingefassten Straßenzug.
Die Architektur der Häuser wies eine interessante Besonderheit auf: An den Kreuzungen, wo Querverbindungen wie die Brüßlgasse oder die Panikengasse – die ich nur wegen ihrer schönen Namen erwähne, pars pro toto – die Hasnerstraße im rechten Winkel queren, folgt die Form der Häuser nicht dem geometrischen Muster des Straßenplans. Stattdessen werden die Ecken auf eine Weise abgeschrägt, dass genau eine zweiteilige Flügeltür in die gewonnene Fläche passt. Das ist nicht unwichtig. Es ist nichts weniger als die planerische Hintergrundinformation für den Spruch, dass in Ottakring an jedem Eck ein Wirtshaus ist. Irgendwer muss sich das ausgedacht haben, als im 19. Jahrhundert die Räume zwischen Wilheminenberg und Innenstadt urbanisiert wurden.
Leider stimmt der Spruch nicht mehr, oder sagen wir: nicht mehr ganz. Die guten, alten Beisln mit ihrer Gulaschküche sind verschwunden oder haben sich in edlere Interpretationen ihrer selbst verwandelt wie das „Gasthaus zum alten Sünder“. Dafür sind in die bequem zu begehenden Gassenlokale Sportcafés und Wettbüros eingezogen, aber auch Treffs wie „Alamo“, der „erste private Seniorenclub“, auf dessen verspielt bunter Fassade der Bundesadler stramm stehen muss, um das Gründungsdatum 2008 zu bezeugen.
Ich ging stadteinwärts, betrachtete die faszinierende, neoklassizistische Fassade der Brotfabrik, die 1909 vom Ersten Wiener Consum-Verein gebaut worden war (inzwischen ist hier Kreativwirtschaft zu Hause). Ich ging vorbei am BRG 16, dem Amtshaus, schaute in so manche Cafés und Bars, Kindergärten und Spielplätze und war erstaunt über das Nebeneinander von Kinder- und Erwachseneneinrichtungen. Das Hauptquartier der Wiener Pfadfinder und Pfadfinderinnen trennt zum Beispiel nur eine Hausnummer vom pinken Schaufenster der „Liebeshütte“, wo eine blinkende Leuchtschrift darauf hinweist, dass hier OPEN ist – ja, ohne Fremdsprachenkenntnisse geht auch auf dem Neulerchenfeld gar nichts.
 Aber das erstaunlichste Gebäude befand sich schon fast am Ende der Hasnerstraße, also hausnummernmäßig an ihrem Anfang: der abgerockte Betonneubau der Pfarrkirche Maria Namen, dessen Fassade sich nicht zwischen lässigem Brutalismus und Parkgarage entscheiden will. Ein gestaltungsfreudiger Pfarrer hatte den Architekten Otto Nobis beim Neubau zu Beginn der siebziger Jahre unterstützt. Ich schlüpfte in die Kirche, in der inzwischen drei Gemeinden Heimat gefunden haben: die vom Neulerchenfeld, eine polnische und eine spanische. Im Halblicht des Kirchenschiffs ließen drei eindrucksvoll gestaltete Glasfenster träumerische Farben ins Haus.
Es war einer der Momente, die man in Wien suchen muss, aber regelmäßig findet, sobald man sucht. Nachher meldete ich mich gegenüber im Gasthaus Zum Derwisch zum „Jazzbransch“ an.

christian.seiler@kurier.at

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