Christian Seilers Gehen: "Jeder Mensch ist der Ursprung unzähliger Geschichten.“

Christian Seilers Gehen: "Jeder Mensch ist der Ursprung unzähliger Geschichten.“
Jesuitenwiese – Hauptallee – Heustadlwasser – Lusthaus – Lusthauswasser – Lusthaus – Hauptallee – Jesuitenwiese: 12.500 Schritte

Als ich am ersten Wochenende dieses Herbstes durch den Prater gehe, erinnere ich mich an ein Gespräch, das ich zuletzt mit dem Dramatiker Felix Mitterer führte. Wir sprachen über die Stoffe, aus denen Mitterer seine Ideen schöpft, und er wendete sich an das Publikum und sagte: „Ich könnte über jeden von Euch ein Theaterstück schreiben. Jeder Mensch ist der Ursprung unzähliger Geschichten.“
Ich erinnere mich an diesen Satz von Mitterer, weil ich schon zwischen Jesuitenwiese und Hauptallee so viele Menschen sehe, die mir ihre Geschichte erzählen, ohne dass sie mich überhaupt wahrnehmen. Ich schnappe ein Bild auf oder einen Gesprächsfetzen, und schon entsteht vor meinen Augen ein Bild, eine Geschichte, ein Stück.
Die beiden Frauen, die sich einig sind, dass es jetzt das letzte Mal war, dass sie sich das gefallen lassen: Ein Belästigungsfall, von dem wir bald alle hören werden? Oder doch nur eine ganz normale, traurige Familiengeschichte? Titel: „Die zwei Frauen“.
Die beiden alten Herrschaften mit ihren Nordic Walking-Stecken, die darüber streiten, ob es denn jetzt wirklich besser gewesen sei für die Maria, sie habe eh nichts mehr davon gehabt: Bericht aus der Palliativstation? Oder doch nur die Geschichte einer Katze, die abgegeben werden muss, was natürlich auch ein Drama ist? Titel: „Maria fehlt“.
Der Herr in der Hundezone, der gerade erklärt, wie er seinem Spaniel beigebracht hat, zu schweigen. Der Hund steht kläffend vor ihm und reagiert auf den Befehl „Kein Laut“ kein bisschen, bis sein Herrl zur Strafe in die Tasche mit den Frolic-Kringeln greift. Wie diese großartige Dressurleistung wohl zustande gekommen ist? Mehr im Stück „Der Hundeflüsterer“.
Ich gehe am Heustadlwasser vorbei, wo es einen großen Baum entwurzelt hat, er liegt jetzt dramatisch im Wasser, Absperrungen schützen uns Fußgänger vor dem Absturz. Höre zwei drahtige Jogger, wie sie erzählen, dass der Chef mit dieser demotivierenden Art bei ihnen nicht mehr durchkomme, wirklich nicht mehr: „Rebellion auf der Direktionsetage“.  
Ich beschließe, auch noch das Lusthauswasser zu umrunden, schließe dabei zu einem Paar auf, gerade als er zu ihr sagt: „Ich hätte es nicht tun sollen, ich weiß. Aber ich konnte nicht anders …“ Seufzend lasse ich auch dieses Drama hinter mir („Der Mann, der nicht anders konnte“), weiche den großen Lacken aus, die sich auf dem Stadtwanderweg 9 gesammelt haben, und obwohl ich mir geschworen habe, nur mehr auf den Rhythmus meiner Schritte zu hören, kann ich die Augen nicht von der Kolonne der winzigen Radfahrer lassen, drei, vielleicht vier Jahre alt, die wie die Graugänse ihrem Anführer hinterherradeln.
Der Anführer hat Spaß, als er spritzend die nächste Lacke durchquert. Dann kommt Kind eins, und es passiert, was an diesem Tag passieren muss: der Gatsch ist zu tief, das Rad bleibt stecken, Kind eins köpfelt ins Wasser. Dann kommt Kind zwei und verhält sich solidarisch, indem es exakt das tut, was Kind eins vorgezeigt hat.
Jetzt wird es richtig laut im Wald. Der Vorhang fällt.

christian.seiler@kurier.at

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