Christian Seilers Gehen: Ich gehe durch die leere Stadt.

Christian Seilers Gehen: Ich gehe durch die leere Stadt.
Postgasse – Bäckerstraße – Lugeck – Rotenturmstraße – Graben – Dorotheergasse: 1.400 Schritte

Ich gehe durch die Wiener Innenstadt, Kragen hochgestellt, Mund-Nasen-Schutz griffbereit, falls ich irgendwo Gefahr wittere, Gefahr für mich oder Gefahr durch mich, beides möglich, beides zu vermeiden. Ich gehe zu meiner geistigen und körperlichen Ertüchtigung, falle also nicht unter die allgemeinen Ausgangsbeschränkungen, denn ich verfüge über einen handfesten und belastbaren Grund, mich trotz ausgesprochener Beschränkungen auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten. Ich gehe. Wie soll ich mich ertüchtigen, wenn ich nicht gehe? Wie soll ich bei Laune bleiben, wenn ich zu Hause sitzen muss? Das verstehen sicher auch Karl Nehammers Polizisten und stören einsame Herumsitzer und Fußgänger nicht, wie sie das noch im Frühjahr getan haben.
Bin ich guter Laune? Nein, wer heute guter Laune ist, bitte vortreten! Ich gehe vorbei am Café Engländer, dem normalerweise vergnügtesten unter den Wiener Cafés, wo sich viele Habitués so gern selbst genug sind, dass ich in den normalen Zeiten manchmal meinen Schritt beschleunige, um nicht an einer Unterhaltung und dem Seidel Bier picken zu bleiben, das diese Unterhaltung zwangsläufig begleitet. Heute nur Dunkelheit. In der Scheibe, durch die ich sonst vorsichtig schaue, wer gerade an der Bar steht, nur ich, miese Laune, Kragen aufgeschlagen, Mund-Nasen-Schutz griffbereit. Ich gehe am Alt Wien vorbei, wo sonst die Raucher die Bäckerstraße zum Wohnzimmer umfunktionieren.
 Wer hätte jemals gedacht, dass das Alt Wien die Nichtraucherverordnung überlebt? Dabei ist die ein Lercherlschas gegen das, was uns gerade alles verboten wird. Mir fehlen die Gesichter vor dem Café, in denen ich Leben im Konjunktiv lesen kann: Aus mir wäre ein großer Dichter geworden, wenn ich nicht beim Herold Telefonnummern ordnen würde. Aus mir ein berühmter Maler, wenn mir die Gespritzten nicht so gut geschmeckt hätten. Aus mir ein Bundeskanzler, aber ich bin schon fast vierzig ...
 Ich gehe durch die leere Stadt. Im Frühjahr, während des ersten Lockdowns, hatte ich die Abwesenheit der Touristen noch als eine Art Offenbarung betrachtet: So sieht Wien also aus, wenn nicht jede Seitengasse von einem Wien-abseits-der-Pfade-Kommando powerentdeckt wird.  Inzwischen bin ich an den Anblick gewöhnt. Die Leerstellen rücken schmerzhaft in den Vordergrund. Im Lugeck eine Frittatensuppe essen: verboten. Im Daniel Moser mit bestem Espresso an die Achtzigerjahre erinnert werden: unmöglich. Selbst ein Schnitzel beim Figlmüller erscheint mir, so weit ist es gekommen, attraktiv.
 Ich gehe über die Rotenturmstraße, wo die riesigen, roten Weihnachtslampen hängen, meine Favoriten in der barocken Innenstadt, weil sie ein bisschen wie Chinatown wirken – erinnert sich jemand? New York? London? Das sind Städte, die man einmal besuchen durfte. Über den Graben in die Dorotheergasse. Jetzt stehe ich vor dem Hawelka. Dunkel, der Schanigarten halbherzig weggeräumt. Wie ich mich darauf freue, wenn sich hier wieder so viele Menschen drängen, dass ich Hals über Kopf die Flucht ergreifen kann.

christian.seiler@kurier.at

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