Christian Seilers Gehen: Hierher gehe ich noch etwas humpelnd.

Christian Seilers Gehen: Hierher gehe ich noch etwas humpelnd.
Stubenbrücke – Weisskirchner Straße – Stadtpark: 500 Schritte

Ich gehe über die Stubenbrücke. Links vor mir liegt der Stadtpark, rechts das Museum für angewandte Kunst, dessen Fenster der großartige Lichtkünstler James Turrell in sich verändernde Lichtlandschaften verwandelt. Jeden Tag bei Einbruch der Dämmerung beginnt ein neues Spektakel, ein täglicher poetischer Akt.  
Seit dem 15. Jahrhundert führt hier eine Brücke über den Wienfluss. Sie verbindet die Innere Stadt mit der Landstraße, mit der Nikolaivorstadt und der Ungargasse, die, nomen est omen, Richtung Ungarn geführt hat. Oft wurde die Brücke verändert, verbreitert, abgerissen, neu gebaut, zuletzt von den Architekten Friedrich Ohmann und Josef Hackhofer, von denen auch die schöne Gestaltung der Wienflussverbauung stammt. Die beiden ließen die steinerne „Stubentorbrücke“ durch die elegante „Stubenbrücke“ ersetzen und schlugen damit einen städtebaulichen Akkord an, indem auch die restlichen Brücken zwischen Stadtpark und Donaukanal ihrer Planung folgen: die Radetzkybrücke, die Kleine Marxerbrücke und der pittoreske Zollamtssteg, der den Wienfluss dort überspannt, wo eine Etage tiefer auch die U4 das Wasser überquert und damit eine historistisch-urbane Situation schafft, die sich noch kein Fotograf, der die Seele Wiens einfangen wollte, entgehen ließ.
Ich bleibe vor den „Larven“, den sogenannten „Lemurenköpfen“ stehen, die aus der Werkstatt des großen Franz West stammen. Auf jedem Pylon der Brücke wurde einer montiert, schmallippig, blind und nur mit gewaltigen Nasenlöchern ausgestattet, um Witterung aufnehmen zu können, sich frei drehend in der Wahl der Himmelsrichtung. Komische, archaische Wesen, die sich nicht zwischen Macht und Unbeholfenheit entscheiden wollen, Signale der Beständigkeit hoch über dem fließenden Wasser der Wien.
Als Wests Larven 2001 zum ersten Mal montiert wurden, machten sie auf die MAK-Ausstellung „Franz West: Gnadenlos“ aufmerksam. Als sie 2014 abmontiert wurden, blieb mir das Herz stehen. Ich fürchtete, die liebgewonnenen Giganten könnten nach der Renovierung auf dem Kunstmarkt landen und nicht in den öffentlichen Raum zurückfinden. Zwei Jahre später wurde ich eines Besseren belehrt, ein Glück.
Ich habe Peter Noever, den damaligen Direktor des MAK, nie persönlich kennengelernt. Aber ich bin ihm persönlich dankbar dafür, dass er mit viel Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen dafür gesorgt hat, dass rund um das Museum, das er durchaus als „seines“ verstand, so viel Qualität und Poesie ins Stadtbild migriert ist. Die Lemuren auf der Stubenbrücke. Aber auch die Lichter Turrells, die jeden Abend verzaubern, und das wundervolle sechsteilige „Stage Set“ von Donald Judd, ein Metallgerüst mit verschiedenfarbigen Stoffbahnen im XL-Format, das aus dem nahen Stadtpark nicht mehr wegzudenken ist.
Hierher gehe ich jetzt, noch etwas humpelnd, treue Leserinnen und Leser wissen warum. Angewandte Kunst: Das heißt, die Kunst kommt zu mir, ich muss ihr nur begegnen. Das könnte ein neuer, alter Auftrag an dieses schöne, leuchtende Museum sein.

christian.seiler@kurier.at

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