Christian Seilers Gehen: Guter Mann, gehen Sie bitte ein bisschen leiser.

Christian Seilers Gehen: Guter Mann, gehen Sie bitte ein bisschen leiser.
Museumsquartier – Heldenplatz – Kohlmarkt – Graben – Stephansplatz – Wollzeile: 2500 Schritte

Nachts – und damit meine ich nachts, nicht abends – verändert Wien sein Gesicht, vor allem aber seinen Sound. Wien klingt tagsüber lebendig: das Brummen der Autos, das Klackern der Hufe von Fiakerpferden, die in die Arbeit müssen, das laute Telefonieren von Menschen, die noch nicht begriffen haben, dass ihr Telefon auch leise Gespräche elektromagnetisch ans Ziel befördert,  das Schnarren der Rollkoffer, das die Ankunft oder Abreise von Touristen begleitet, die Rufe von selbst ernannten Parkhelfern, die einem Hilflosen beim Einparken assistieren, die selbstvergessenen Gesänge von Müßiggängern, das ferne Eintreffen oder Abfahren einer U-Bahn, Achtungzurücktreten, das Lamento eines Bettlers, Augustinzeitung, alles Gute, kleine Spende ...
Als ich unlängst ziemlich weit nach Mitternacht durch den ersten Bezirk marschierte – nichts schließt einen gelungenen Abend so perfekt ab wie eine halbe, dreiviertel Stunde zu Fuß, wenn Gehörtes, Gesagtes, Empfundenes im Takt der Schritte auf dem Heimweg nachschwingen kann –, fiel mir beim Überqueren des Stephansplatzes auf, dass ich nur mich selbst hörte. Meine Schritte, sonst ein unauffälliges, dumpfes Ostinato, machten sich plötzlich wichtig, nicht laut, aber vernehmlich und so bestimmend, dass sie die hohen Fassaden der umstehenden Prunkbauten hinaufkrochen und eine Art Echo erzeugten – es hätte mich nicht gewundert, wenn irgendwo im dritten Stock ein Fenster aufgeflogen wäre und der Dompfarrer hätte hinuntergerufen: „Guter Mann, gehen Sie bitte ein bisschen leiser, ich brauche auch meinen Schlaf.“
Ich schlug einen Bogen um die Rückseite des Stephansdoms, weil mich die matt beleuchteten Schaufenster der großen Buchgeschäfte auch nachts magisch anziehen. Vor allem die Auslagen der Leporello-Buchhandlung sind so dicht bestückt, dass ich mich regelmäßig in diesem intellektuellen Abenteuerspielplatz verliere. Dort stehend hörte ich plötzlich Schritte, die ebenso drastisch die Ruhe der Wiener Nacht störten wie meine eigenen, und als ich unwillkürlich meine Aufmerksamkeit darauf richtete, wer denn um diese Zeit die Nachtruhe des Dompfarrers stört, sah ich meinen alten Freund Christoph, der offenbar Überstunden gemacht hatte und jetzt die Schritte nachholte, die er tagsüber nicht gegangen war.
Nachts um zwei, halb drei, trifft man Freunde mitten in der eigenen Stadt ungefähr so aufgeregt, als liefe man ihnen in Shanghai über den Weg, und weil das kein Zufall sein kann, fielen wir einander um den Hals, lobten die Vorsehung und tauschten all das Wissenswerte aus, was wir einander noch nicht erzählt hatten, Zeit war ja im Übermaß vorhanden, nie ist es so egal, wie lange man sich verplaudert wie mitten in der Nacht, wenn nichts mehr zu erledigen ist, und wir waren heiter und die Geschichten sprudelten, und wahrscheinlich hätten wir die Sonne aufgehen gesehen, wenn nicht irgendwo im dritten Stock ein Fenster aufgeflogen wäre und jemand hinuntergerufen hätte: „Ein bisschen leiser, ich brauche auch meinen Schlaf.“
Okay, okay.
Dann war es still.

christian.seiler@kurier.at

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