Christian Seilers Gehen: Geschichtsunterricht am Heldenplatz
Über den Heldenplatz zu gehen bedeutet, Geschichtsunterricht zu nehmen. Kein Platz in Wien ist mit mehr Bedeutung aufgeladen, mit mehr Schande, mehr Großmannssucht, aber auch Vergeltungswillen und Bedürfnis nach Abbitte. Auf dem Heldenplatz, könnte man meinen, werden Menschen zur Menge, zur Mahnung, zum Faktor, und ich fühle mich klein und unbedeutend, als ich vom Michaelertor kommend hinaustrete auf diesen Platz, der für mich vor allem wunderbar ist.
Es ist schon spät, längst ist es dunkel. Die Hofburg strahlt hell und warm. Vom Rathaus weht ein bisschen Christkindlmarktsound herüber, also ein Rest von dem, wovor ich im Advent so beseelt fliehe. Die Museen, das Burgtheater, das MuseumsqQuartier ergeben die Silhouette einer Stadt, die es so gar nicht gibt, und wäre irgendwer auf die segensreiche Idee gekommen, endlich die restlichen Autos von diesem Platz zu verbannen, würde der Heldenplatz eine Insel der Zeitlosigkeit sein.
André Heller hat eine besondere Beziehung zu diesem Platz. Schon als er 1993 mit vielen Verbündeten das „Lichtermeer“ als mächtiges Zeichen gegen Ausländerfeindlichkeit ausrief, formulierte er das Ziel, dass mehr Menschen im Zeichen des Ausgleichs und der Menschenfreundlichkeit zusammenkommen mögen als am 15. März 1938, als Hunderttausende Hitler zujubelten, der Österreichs Anschluss an Deutschland verkündete.
Ich gehe zum Eingang der Nationalbibliothek und ermesse von ihren Stufen die Tiefe des Platzes. Auf seinem neuen Album „Spätes Leuchten“ hat Heller dem Heldenplatz ein Lied gewidmet, das die unausweichliche Gleichzeitigkeit all dessen, was geschehen ist, beschwört, mit einer innigen, melancholischen Melodie: Es ist alles noch hier / Dieses Flüstern und Schrein / Und am Himmel von Wien / Die Wunde Heldenplatz.
Ich spaziere zum Weltmuseum, das ich sehr mag, und erinnere mich an besondere Momente, die ich hier auf diesem Platz erlebt habe, zum Beispiel an den tief berührenden Auftritt von Willi Resetarits mit seiner Mutter Angela, als die beiden beim „Fest der Freiheit“ das kroatische Heimwehlied „Lipo ti je cûti“ sangen, eine mächtige Erinnerung daran, dass nicht nur die deutsche Sprache Österreich ausmacht.
Heller singt: Und der Flieder betört / und ich schau so verstört / In die Himmel und Höllen / Heldenplatz“, und ich gehe vorbei an den struppigen, leeren Fliederbüschen, wo im Frühling die jungen Paare sitzen, und die Zeile von vorhin klingt nach: „Und die Liebenden spielen Blinde Kuh / Und die Schatten der Mörder, die schaun zu …“
Ich stehe jetzt beim Denkmal für Prinz Eugen, zwischen den beiden provisorischen Neubauten des Parlaments und fühle mich verletzlich. Es gibt keine Garantien dafür, dass unser Leben so friedlich und wohlbestallt verlaufen muss wie in den letzten Jahrzehnten. Gewissheiten gibt es nicht, außer wir erarbeiten sie uns ständig von neuem, messen ihnen den Wert bei, den sie verdienen und treten denen entgegen, denen sie nichts bedeuten.
Denn alles, das verweht, singt Heller, kehrt in der Nacht zurück / zum Heldenplatz.
christian.seiler@kurier.at
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