Christian Seilers Gehen: Eine der kürzesten, aber auch interessantesten Gassen Wiens
An der Wallfahrtskirche von Maria-Grün führt der Stadtwanderweg 9 Richtung Lusthauswasser vorbei. Das Lusthaus ist fünf Minuten entfernt, die Prater Hauptallee eine gut geeignete zweispurige Zufahrtsstraße für Biker, Skater und Fahrer von allerlei Fantasiefahrzeugen, die man sich oben beim Praterstern ausborgen kann.
Genau hier, wo der aufgeregte, bunte und geschäftige Prater in eine Art kontrollierten Dschungel übergeht, gehe ich gerne um das Lusthauswasser. Aber diesmal fällt mir der kleine Weg auf, der nach links in den Wald führt, Richtung Donau, und ich biege ab, nachschauen, was dieser Weg zu bieten hat.
Ich gehe vielleicht eine Minute, bis mitten im Wald eine kleine Lichtung aufgeht, in deren Mitte eine Jesusstatue mit ausgebreiteten Armen steht, flankiert von einigen Grabsteinen und einer Marienstatue.
Ein Franz Plankenbichler ist hier zur Ruhe gelegt worden, hochdekorierter k.u.k. Feldwebel, der im ersten Weltkrieg bei Görz gefallen ist. Ein weiterer Stein erinnert an den Feuerwehrhauptmann Josef Müller, gestorben 1921, der dem Löschrayon Freudenau vorgestanden war. Auf dem dritten Stein betrauert seine Gattin Rosina den Josef Maurer, der „für Gott, Kaiser und Vaterland“ auf dem Schlachtfeld von Duino sein Leben gelassen hat. Die Vögel zwitschern. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen dringen durch die dichten Kronen der Bäume. Es ist ein stiller Ort, und es ist ein ganz besonderer Ort.
Der Platz erzählt ein Stück Pratergeschichte, nicht aus dem Zentrum, sondern von der Peripherie aus. Denn hier, in den Praterauen weit entfernt von Wiens Innenstadt, entstand 1862 an der Aspernallee eine einklassige Volksschule für die Kinder der Donauschiffer und Hafenarbeiter, und weil diese Schule zu weit von der nächsten Pfarre in der Praterstraße entfernt war, hängte der Schulleiter Anton Schentz kurz entschlossen ein Marienbild an einen Baumstamm in die Au, um dort mit den Kindern Andachten abzuhalten.
Der Ort wurde im Jahr darauf offiziell geweiht, es kamen immer mehr Menschen, die Au wurde, wie es die Erzdiözese in einem Artikel schön formuliert, zu „einem Ort der gelebten Volksfrömmigkeit“. 1911 ließ der Gastwirt Franz Plankenbichler, der in der Nähe ein Wirtshaus betrieb – ich vermute, es ist jener, der hier seine letzte Ruhestätte gefunden hat –, die Marienstatue aufstellen, der ich gerade ins Gesicht schaue, und rundherum hängten die Menschen unzählige Heiligenbilder, Lichter und kleine Kostbarkeiten an und in die Bäume, es sollen so ungefähr 6.000 Bilder im Wald verteilt worden sein, ein kleines, selbst gebautes Mariazell.
1924 wurde dann die Wallfahrtskirche Maria Grün errichtet. Sie ist bis heute das Ziel von Wallfahrern, speziell der in Wien lebenden Burgenlandkroaten. Als der Wald zum Schutz der Bäume von den Devotionalien der Marienandacht geräumt wurde, fielen insgesamt mehrere Wagenladungen an Material zum Abtransport an.
Ich gehe zurück, lasse den Dschungel und seine spirituellen Reste hinter mir. Ich bin jetzt eindeutig reif für die Prater Hauptallee.
christian.seiler@kurier.at
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