Christian Seilers Gehen: Die Wohntürme von Alterlaa: Ein Phänomen wie Tur Tur

Christian Seilers Gehen: Die Wohntürme von Alterlaa: Ein Phänomen wie Tur  Tur
U6-Station Alterlaa – Wohnparkstraße – entlang der Liesing – Breitenfurter Straße – Kirchenplatz Atzgersdorf – Canavesegasse – Knotzenbachgasse – Meisgeyergasse – entlang der Liesing – Liesinger Platz: 6800 Schritte

Die Wohntürme von Alterlaa sind ein Phänomen wie Tur Tur, der Scheinriese aus Michael Endes Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Während sie aus der Entfernung gigantisch und trutzburgmäßig aussehen, eine überdimensionale Interpunktion der urbanen Erzählung im Süden Wiens, bekommen sie aus der Nähe ein freundliches und zugewandtes Gesicht mit interessanten Furchen.
Nachdem ich die Einkaufsebenen durchquert habe, die bei der U6-Station angeordnet sind, stehe ich zwischen den mehr als 20 Stockwerke hohen Türmen und betrachte die Nadelholz-und Strauchkulturen, die aus den Pflanztrögen der Terrassen sprießen und der strengen Fassadenstruktur eine Art Lächeln abtrotzen. Der Architekt Harry Glück, der die Türme gemeinsam mit Kurt Hlaweniczka und Requat&Reinthaller entworfen hat, verfolgte dabei das Konzept des „gestapelten Einfamilienhauses“. Jede Wohnung soll die Qualität eines kleinen Hauses haben, samt Terrassen und Kleinstgärten.
Der Wohnpark entstand zwischen 1973 und 1985. Während das Konzept der Satellitenstädte anderswo krachend scheiterte, etablierte sich in Alterlaa eine funktionierende Stadt in der Stadt, der die etwa 10.000 Bewohner bei allen Befragungen Höchstnoten gaben. Ich gehe auf und ab zwischen den Wohnkomplexen. Immer wieder betrachte ich die Türme aus neuen Perspektiven, oft scheinen sie direkt aus den sie umgebenden Pflanzenlandschaften herauszuwachsen. Jogger und Radfahrer kommen mir entgegen, nicken mir zu, wenn man sich schon nicht kennt, dann tut man wenigstens so.
Plötzlich finde ich mich am Uferweg der Liesing wieder, der den Wohnpark im Norden abtrennt, und beschließe, dem Wasser Richtung Liesing zu folgen, sozusagen auf dem Werner-Faymann-Gedächtniswanderweg. So oft, wie ich gelesen habe, dass der frühere Bundeskanzler aus Liesing stammt und Liesing repräsentiert, halte ich es für gar nicht so unwahrscheinlich, dass ich ihn am Ufer dieses überregulierten Baches persönlich treffen werde – vielleicht radelt er, vielleicht ist er ein Nordic Walker.
Interessant, wie vielschichtig die Gegend hier ist. Stadel, die aussehen, als wären sie noch in Betrieb, einstöckige Handwerker- und Fuhrmannshäuser, die sich mit Wohnanlagen abwechseln, wo die Einfamilienhäuser nicht übereinander, sondern nebeneinander gestapelt sind, immer wieder kommen auch Industriebauten ins Sichtfeld, viele davon in Farben gestrichen, als wollten die Inhaber sagen: Schaut her, seht ihr eh, wie schiach wir sind!
Ich mache einen Abstecher zum alten Ortskern von Atzgersdorf, dann finde ich – gar nicht so einfach – zurück zur Liesing, der ich im Flussbett bis zum Bahnhof Liesing folge. Dort angekommen, umrunde ich den Liesinger Platz, der alle Stücke spielt: die runde, graue Fünfzigerjahrkirche mit ihrem schmucklosen Turm; das theatermäßige Amtshaus mit seiner neobarocken Fassade und dem charakteristischen Uhrturm; das eher sachliche „Haus der Begegnung“ mit dem Kunstraum, der gerade entsteht; McDonald’s, ein Parkhaus; die Arbeiterkammer; der Bahnhof.
Nur Werner Faymann habe ich noch immer nicht gesehen.

christian.seiler@kurier.at

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