Christian Seilers Gehen: Der schwebende Tempel

Christian Seilers Gehen: Der schwebende Tempel
Rathaus – Burgtheater – Heldenplatz – Stephansplatz: 1800 Schritte

Ich war in Gedanken, als ich neulich abends am Burgtheater vorbeieilte. Das Wetter war schlecht, es nieselte. Der Asphalt der Ringstraße glänzte, die Scheinwerfer der Autos spiegelten sich melancholisch. Ich hatte Philip-Marlowe-mäßig den Kragen meines Mantels aufgestellt und die Nick-Knatterton-Mütze tief in die Stirn gezogen. Ich kam aus dem Rathaus, wo der Schriftsteller Michael Köhlmeier gerade den Ferdinand-Berger-Preis bekommen hatte.
Sehen Sie, ich kannte den Preis auch nicht. Er ist nach dem österreichischen Widerstandskämpfer Ferdinand Berger benannt und wird Menschen zuerkannt, „die durch wissenschaftliche oder publizistische Leistungen oder durch besonderes öffentliches Auftreten einen markanten Beitrag gegen Neofaschismus, Rechtsextremismus, Rassismus oder demokratiegefährdendes Verhalten geleistet haben“. Köhlmeier wurde für die Rede ausgezeichnet, die er vergangenes Jahr am Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Parlament gehalten hatte. Sie hat mit dem inzwischen berühmt gewordenen Satz „Erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich dumm stelle“ begonnen – der Rest ist Zeitgeschichte.
Im Rathaus hielt der Schriftsteller Paulus Hochgatterer eine brillante Laudatio auf Köhlmeier, heiter und ernst. Hochgatterer sprach über Scham, zitierte Mira Lobe und Huckleberry Finn, bevor er auf verschlungenen Wegen zum Erzähler Köhlmeier zurückgekehrt war und zu dessen Waffe gegen die Scham und das Vergessen: das Erzählen.
Während ich mich an möglichst viel von Hochgatterers Rede zu erinnern versuchte, bemerkte ich, dass das Tor zum Volksgarten halb offen stand. Auf die Gefahr hin, dass mich ein missmutiger Parkwächter gleich wieder auf die Straße hinausstampern würde, trat ich in den Park ein und fand mich plötzlich umgeben von matter Dunkelheit. Während rund um mich die Ringstraßenprachtbauten in warmen Farben beleuchtet waren und sich vom Nachthimmel abhoben, ging ich plötzlich völlig allein über den Kies der Gartenwege, überrascht und geschmeichelt von dieser Perspektive, die alles zeigte, nur mich selbst nicht.
Dann sah ich den Theseustempel. Er schien hellweiß über dem Boden des Volksgartens zu schweben, Fliegender Holländer im klassizistischen Gewand. Meine Augen mussten sich erst an die plötzliche Helligkeit gewöhnen. Ich blieb stehen, um den Wiener Nachbau des berühmten Theseions aus Athen zu bewundern.
Es war ganz still. Ich hörte nur die Wassertröpfchen, die in den Baumkronen von Blatt zu Blatt hüpften und etwas Geheimnisvolles zu wispern schienen.
Wisperten sie die ewige Frage von Mira Lobe, die Paulus Hochgatterer vorhin zitiert hatte? „Stimmt es, dass ich gar nichts bin?/Alle sagen, ich bin keiner/nur ein kleiner Irgendeiner/.. Ob’s mich etwa gar nicht gibt …?“
Nein, sie flüsterten: „Sicherlich/gibt es mich/Ich bin ich“.
Beruhigt ging ich weiter Richtung Heldenplatz. Ein Paar kam mir entgegen. Es ging mit fragenden Augen auf den schwebenden Tempel zu, und vielleicht hat ihnen das Orakel etwas ganz anderes erzählt.

christian.seiler@kurier.at

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