Christian Seilers Gehen: Wien kann arm und Wien kann reich
Es ist ein abwechslungsreicher Weg durch Heiligenstadt. Weil ich mit der U-Bahn angereist bin, streife ich zuerst einmal durch den Karl-Marx-Hof, dessen Charakter mich immer wieder fasziniert. Es ist bekannt, dass der Gemeindebau der zwanziger Jahre unzählige Arbeiterinnen und Arbeiter aus prekären Wohnverhältnissen befreite, und der Karl-Marx-Hof strahlt noch immer ein wenig von dem Stolz aus, mit dem ihn das Rote Wien an die damalige Peripherie gepflanzt hat. So viele Details – die kunstvollen Gitter an den Eingängen; die wunderschön geschnittenen Nummern an den Hausstiegen – zeugen von Sorgfalt und Handwerkskunst. In den Straßengeschäften haben sich Friseure, Schneidereien und Kosmetiksalons eingemietet, aber auch eine „Tafel für Haustiere“ – eine Ausgabestelle von Tierfutter an Menschen, die es sich nicht mehr leisten können, Futter für ihren Vierbeiner einzukaufen.
Ich wechsle nur einmal die Straßenseite, gehe die Grinzinger Straße ein bisschen bergauf, und komme an der ganz anderen Seite des sozialen Spektrums an. Hier hat Juan Amador, Österreichs einziges Restaurant mit drei Michelinsternen, Quartier bezogen, und wenn ich die Nestelbachgasse hinaufgehe, sehe ich vor dem Pfarrwirt, einem der schönsten, bürgerlichen Wirtshäuser weltweit, Autos parken, für deren Gegenwert man sämtliche Möpse Wiens ein Leben lang mästen könnte.
Ich gehe vorbei am „Mayer am Pfarrplatz“, einem der Orte, an denen gerade – Beethovenjahr! – gern an den großen Mann mit der wilden Frisur erinnert wird, biege in die Probusgasse ein, die von einstöckigen Hauerhäusern gesäumt wird. Das letzte auf der linken Seite, wunderschön renoviert, ist übrigens das Beethovenmuseum. Zur Erläuterung: Beethoven hatte in Wien eine ganze Reihe von Wohnsitzen. Im Haus an der Probusgasse verfasste er aber 1802 sein erschütterndes „Heiligenstädter Testament“, in dem der damals 32-Jährige über sein schlechter werdendes Gehör und seine Depressionen klagte und früh seinen Nachlass regelte.
Ich biege in die Armbrustergasse ein, wo Bruno Kreisky wohnte, schaue von der Rudolf-Kassner-Gasse über den Holzzaun in den großzügigen, eindrucksvollen Garten des heutigen Kreisky-Forums, dann gehe ich über die Springsiedel- und die Amalgergasse Richtung Grinzing, betrachte am Wohnhaus Nummer 19 das historische Fresko, das von den Kelten am Gallenberg über den Weinbau der Römerzeit und die Türkenkämpfe bis „Ersten Dampfer in Nussdorf“ einen großen Bogen schlägt. Schräg gegenüber liegt übrigens auf einem etwas düsteren Grundstück eine diplomatische Vertretung, die nicht zu erkennen gibt, wen sie eigentlich vertritt. Nur das Parkverbot für Nichtdiplomaten und eine schlaffe Flagge geben Auskunft. Über die Langackergasse und Kahlenbergerstraße gehe ich zurück Richtung Pfarrplatz, wo ich dann über die Hammerschmidtgasse, die Ernst Molden und Willi Resetarits so großartig besungen haben, hinunter nach Nussdorf spaziere. Wien kann arm sein, und Wien kann reich sein. Hier sind ein paar Nahtstellen zu besichtigen.
christian.seiler@kurier.at
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