Christian Seilers Gehen: Bis ans Ende der Mazzesinsel
Das Ziel meines Spaziergangs war der Brigittenauer Sporn. Aber wer glaubt, dass dieses nordwestliche Ende der Mazzesinsel zu Fuß leicht zu erreichen ist, irrt. Ich muss mich durch allerhand Sensationen kämpfen, als ich am Friedrich-Engels-Platz aus der Straßenbahn der Linie 2 steige, und damit meine ich nicht nur die Freilegung der historischen Schichten, über die man geht, wenn man durch Wien geht, Straßennamen, Denkmäler, Hinrichtungsstätten.
Vor dem Straßenbahnbuffet streiten nämlich zwei Trankler unter den missbilligenden Blicken älterer türkischer Herren, und hinter der massiven Konstruktion der Adalbert-Stifter-Straße – interessant, dass einem so filigranen Schriftsteller so ein Koloss von Straße gewidmet wird – streben die Türme eines Gemeindebaus kämpferisch in die Höhe, und das meine ich genau so, wie ich es sage. Die Bauten, zwischen 1930 und 1933 vom Otto-Wagner-Schüler Rudolf Perco geplant, verströmen Widerständiges, Klassenkämpferisches, das erst aus der Nähe seinen Charme versprüht, etwa am Schaufenster des Frisiersalons Maly am Eingangsrondell, wo wir erfahren, dass sich hier der „Staatsmeister 2015“ persönlich um die Frisur kümmert.
Durch die Schluchten der Gemeindebauten gehe ich Richtung Sporn, und plötzlich stehe ich in einer Kleingartensiedlung, deren legitime Tränke der „Brigittenauer Stadl“ ist, und kämpfe mich durch Sackgassen und über reservierte Parkplätze zum Durchgang Schongauergasse, durch den ich schlüpfen muss, um den Knoten der sich hier trennenden und zusammenkommenden Stadtautobahnen nach Klosterneuburg oder Transdanubien zu unter- und überqueren. Das zwingt mich durch unvermeidlichen Verkehrslärm, belohnt mich aber gleich darauf mit einer fabelhaft vereinsamten Brigittenauer Lände, die jetzt ruhig und abgewohnt dem Ufer des Donaukanals entlang führt, und mich schließlich, knapp an der Nussdorfer Schleuse vorbei, über die Brücke des hier verendenden Handelskais führt, worauf sich endlich der Brigittenauer Sporn offenbart.
Auf diesem letzten Rest der Insel zwischen Donau und Donaukanal hat Wien plötzlich einen ganz anderen Sound. Rechts strömt die Donau, über mir kreischen Krähen, die einen unbefristeten Mietvertrag unterschrieben haben, links rauscht das Nussdorfer Wehr, Kahlenberg und Leopoldsberg grüßen fast unwirklich nah. Stolz und schön wirft sich das ehemalige Verwaltungsgebäude der „Donau-Regulierungs-Commission“ in Pose, ein dreigeschoßiger secessionistischer Bau von Otto Wagner himself. Das prächtige Gebäude wirkt eher wie ein Komponierhaus oder eine Dichterwerkstätte als ein Bürohaus für die MA 45, Wiener Gewässer, ich fühle mich gleich ganz poetisch.
Als ich hinaus zum Spitz gehe, habe ich schon ein kleines Sonett in Arbeit, bis mich eine freilaufende Dogge mit feuchter Schnauze inspiziert. Darauf fällt mir nur noch Roland Neuwirths Reim ein „Wenn ich mit meiner Dogge/von Grinzing heimwärts jogge“, und damit ist der Poesie für heute genug. Aber ich werde an diesen schönsten Platz Wiens zurückkehren, keine Frage.
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
Die Original-Illustrationen zur „Gehen“-Kolumne kann man jetzt auch kaufen! Alle Infos auf https://alexandraklobouk.com
Kommentare