Christian Seilers Gehen: Auf den Spuren von Beethoven

Christian Seilers Gehen: Auf den Spuren von Beethoven
Beatrixgasse – Ungargasse – Stadtpark – Beethovenplatz: 2.200 Schritte

Ein Spaziergang zum Beethovenplatz könnte natürlich in Heiligenstadt beginnen, wo Ludwig van Beethoven lebte, komponierte und darüber verzweifelte, dass er sein Gehör verlor. Im Beethoven-Museum in der Probusgasse erwachen Leben und Werk des Giganten auf komplexe Weise zum Leben.
Aber lieber schaue ich an der Ecke von Ungar- und Beatrixgasse vorbei, bei dem Haus, wo Beethoven, wie eine Wandtafel erzählt, seine neunte Symphonie vollendet hat. Mir gefällt der Gedanke, dass ich vor fast 200 Jahren – ich war damals noch sehr klein – auf einem Spaziergang durch die Ungargasse hören konnte, wie aus einem offenen Fenster der Hausnummer 5 eine Melodie dringt, die ein älterer Herr mit wilder Frisur ins Klavier hämmert, während er laut dazu singt. Freude-schöner-Götter-Funken. Ist ja nicht irgendeine Melodie, die dem Herrn Beethoven da gerade einfällt.
Durch die Ungargasse gehe ich Richtung Stadtpark, bringe mich zwischen ein paar Fahrrädern in Sicherheit und steige hinter dem Steirereck hinunter an die Wienflußpromenade. Vor ein paar Wochen sah ich hier, ins Gespräch mit einem Freund vertieft, unseren Bundespräsidenten sitzen, der seinen Hund ausgeführt hatte und sich dafür mit einer Zigarette belohnte, und ich war froh: Nicht nur, weil der Präsident in stürmischer Zeit so kluge und milde Worte gefunden hatte, sondern weil es in Wien kein Problem ist, wenn ein Spitzenpolitiker ohne Personenschützer spazieren gehen möchte. Dann geht er eben. Auch dafür liebe ich diese Stadt.
An der U-Bahnstation Stadtpark vorbei gehe ich zum Beethovenplatz, um mir die Büste des Meisters anzuschauen, die mit ihrem grimmigen Gesichtsausdruck den Luftraum über dem Heumarkt überwacht. Ich bleibe stehen vor dem Akademischen Gymnasium, gegründet 1553, wo zwar nicht Beethoven die Schule besucht hat, aber Franz Schubert (dessen Musik mir, wenn ich mich entscheiden müsste, auch ein bisschen mehr am Herzen liegt).
Ich stehe vor dem Gebäude, das der Architekt Friedrich Schmidt um 1870 geplant hat, als neogotische Generalprobe für das Wiener Rathaus, das in den Jahren darauf entstand. Zuerst gingen hier die Kinder des Wiener Bildungsbürgertums ein und aus, später Gabriel Barylli als „Der Schüler Gerber“, und als es kein Bildungsbürgertum mehr gab, drängten sich neunjährige Harry-Potter-Leser durch diese Pforte, weil sie im „Akademischen“ die Wienerische Version von Hogwarts erkannten.
 Könnte sogar stimmen. Als ich vor zwei, drei Wochen nachts vorbeikam, war das Haus hell und bunt erleuchtet. Oben im zweiten Stock stand ein Fenster offen, und eine eingängige, vielstimmig musizierte Melodie sank auf den Platz hinunter. Ich blieb stehen, hörte zu und musste geschichtsvergessen lächeln. Ich fragte mich, an welche oder welchen der besonderen, klugen Geister dieses Hauses wohl die Tafel erinnern wird, die ohne jeden Zweifel bald angeschraubt wird, um an diesen prallen, bunten Moment zu gemahnen.
Beethoven wäre mein Zeuge, wenn er nur ein bisschen besser hören könnte.

christian.seiler@kurier.at

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