Christian Seilers Gehen: Ansichten eines notorischen Fußgängers

Christian Seilers Gehen: Ansichten eines notorischen Fußgängers
Schwedenplatz – Praterstraße – Praterstern – Riesenradplatz: 3.200 Schritte.

Als ich über die Praterstraße Richtung Praterstern gehe, betrachte ich den Pop-up-Radweg neben mir, auf dem zahlreiche Helmträger Richtung Hauptallee flitzen. Der Radweg schaut irgendwie aus wie eine Baustelleninstallation, an die wir Stadtbenutzer uns längst gewöhnt haben, vor allem im Sommer. Aber er gibt mir die Hoffnung, dass der Praterstraßen-Boulevard in den kommenden Jahren auf eine Weise revitalisiert wird, die nicht allein den Bedürfnissen der Autofahrer gilt – aber auch nicht allein jenen der Radler. Als notorischer Fußgänger wünsche ich mir schon lange, nicht das allerletzte Glied in der urbanen Nahrungskette zu sein. Gehen ist, wie ich mit jedem absolvierten Weg inniger empfinde, die angemessenste Fortbewegungsweise in der Stadt. Das soll bitte auch in der Stadtarchitektur seinen Niederschlag finden – breitere Trottoirs, mehr Fußgängerzonen, Schatten, weniger Atemnot durch schräge Parkplätze. Bitte, danke.

Als ich am Praterstern angekommen bin, kämpfe mich über drei, vier, fünf, sechs Fahrbahnen, bis ich innerhalb des tosenden Verkehrs auf dem Vorplatz des Bahnhofs in Sicherheit bin. Architekt Boris Podrecca hatte für diesen Platz einen wunderbaren Entwurf geschaffen, eine Stadtberuhigung unter einem gewaltigen Dach aus Pneumo-Folien-Konstruktionen, die den ganzen Praterstern überspannt hätte. Davon wurden nur die Bruchstücke tatsächlich ausgeführt. Wer Podreccas Entwurf nicht kennt, begreift zum Beispiel überhaupt nicht, warum der Platz von einer Reihe von Trägersäulen eingerahmt wird, die wegen des fehlenden Dachs ihres Sinns beraubt und unverständliche Dekoration sind.

Ich gehe durch den Bahnhof und beschließe, einem plötzlichen Impuls folgend, einen Sprung in den Wurstelprater zu machen, nachschauen, wie sich der organisierte Spaß in Zeiten der sozialen Distanz anhört. Ich gehe zuerst an einem Würstelstand vorbei, wo sich jener Bitzinger, vor dessen Albertina-Würstelstand sich normalerweise immer zig Touristen drängen, selbst ein Denkmal gesetzt hat, samt Konterfei der eigenen Stattlichkeit. Zwei ältere Herren mit kurzen Hosen kommen mir entgegen. Sie riechen nach Bier, obwohl sie Zuckerwatte essen.

Dann stehe ich schon vor dem Tor zum Riesenradplatz, der wahrscheinlich misslungensten städtischen Architekturintervention der vergangenen Jahrzehnte. Mit den ersten Spuren des Alterns wird das Potemkinsche Dorf, das rund ums Riesenrad errichtet wurde, noch absurder und billiger, die schlechte Unterhaltungslüftelmalerei und Ranschmeißerei („Habe di Ehre!“) inklusive.

Bleibt mir nur, mich von dieser Erde zu verabschieden. Zum Glück geht das hier einfach. Ich kaufe mir ein Ticket fürs Riesenrad und hebe, allein in einer Gondel, ab. Für ein paar lange Augenblicke lasse ich die Sünden des schlechten Geschmacks zurück im Erdgeschoß und fahre gen Himmel, betrachte versonnen die wunderbare Stadt, die sich vor mir ausbreitet.

Aber kaum hat eine gewisse Leichtigkeit Besitz von mir ergriffen, fährt meine Gondel schon wieder bergab. Der Unterwelt entgegen.

Kommentare