Bier von einem Engel
Ich gehe durch die Goldeggasse und sortiere Eventualitäten. Gleich am Anfang der Gasse, vom Belvedere aus betrachtet, befindet sich das Haus, wo ich vor ziemlich vielen Jahren meine erste und einzige Ferialpraxis machte. Bei einer Firma, die Sickergruben und Kanaldeckel herstellte, war ich einer Partie von Verkäufern zugeteilt, einer von ihnen spielte im Nebenberuf bei der Storyville Jazzband Klarinette, und mein wichtigster Beitrag zu seinem Arbeitsalltag war, ihn bei einem Verkaufsgespräch so zum Lachen zu bringen, dass er das Telefon auflegen musste.
Es waren die Achtzigerjahre, es gab unendlich viele Jobs. Sogar ich bekam von besagter Firma das Angebot, über die Sommermonate hinaus zu bleiben und eine Karriere als – hmm, ich weiß gar nicht, wie der Beruf heißt – einzuschlagen. Als ich meiner Großmutter, bei der ich aufgewachsen war, davon erzählte, reagierte sie elektrisiert: Eine feste Anstellung? Das darfst du dir nicht entgehen lassen, Bub, dann hast du Sicherheit für dein Leben ...
Ich nahm das Angebot trotzdem nicht an, habe es auch nicht bereut, aber jetzt, als ich durch die Goldeggasse spaziere und sehe, dass in meinen früheren Büroräumlichkeiten eine diplomatische Vertretung eingezogen ist und keine Kanaldeckel mehr verkauft werden, will mir der Gedanke plötzlich nicht aus dem Kopf, was wohl gewesen wäre, wenn. Wäre ich talentiert gewesen für den Job? Hätte ich Karriere gemacht? Wäre ich Abteilungsleiter geworden oder vielleicht sogar – was kommt über dem Abteilungsleiter? Wäre ich glücklich geworden?
Ich gehe durch die Gasse, wo sich schicke Architekturen zwischen die Gründerzeitfassaden geschwindelt haben, und vermisse meine Oma und die Sorgen, die sie sich um mich machte. Weihnachten feierten wir immer gemeinsam, da fuhr die Eisenbahn drüber, das letzte Mal war das im Krankenhaus, wo ein kleiner Christbaum im Zimmer stand, wie er von Friedhofsgärtnereien verkauft wird. Das war nicht schön, aber sonst war es immer schön, Kartoffelsalat, Frankfurter, Maria durch ein Dornwald ging, nachher noch meinen Freund Gustav treffen, eine Flasche aufmachen und Musik machen, bis es genug ist, auf dem Heimweg den Hund Barolo missmutig anschauen, warum er das einzige Tier auf der Welt ist, das auch in der Christnacht nicht reden kann.
Aus dem Café Goldegg dringt warmes Licht auf die Straße. Wenigstens an diesem schönen Kaffeehaus hat sich nichts verändert, außer dass jemand ein hässliches Logo dafür entworfen hat. Ich trete ein, es duftet wie früher, nur minus Zigarettenrauch, und die Kellnerinnen tragen heute weiße Flügel und einen Heiligenschein und müssen ein bisschen darüber lachen, wenn man sie genau anschaut. Wo macht das Leben seine Kurven? Was entscheide ich, was entscheidet mich? An welchen Möglichkeiten gehe ich einfach vorbei und welche Möglichkeiten hätten sich als gefährliche Fallen erwiesen?
„Wissen Sie’s?“, frage ich den Engel, der an meinen Tisch kommt. – „Sicher“, antwortet der Engel. – „Ach so“, sage ich. „Und?“ – „Weihnachtsbock. Kommt sofort.“
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
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