Bahnsteig 9 3/4: Reise ins Wien der Zukunft

Bahnsteig 9 3/4: Reise ins Wien der Zukunft
Belvedere – Prinz-Eugen-Straße – Wiedner Gürtel – Südtiroler Platz – Margaretengürtel – Matzleinsdorfer Platz: 5400 Schritte

Ich gehe, aus dem schönen Belvederegarten kommend (habt ihr gesehen: Vor dem Eingang ins Obere Belvedere wurde ein schiaches Zelt errichtet, um die Zuschauermassen nicht in Regen und Wind stehen zu lassen. Ist das eigentlich weltkulturerbekonform?)  den Wiedner Gürtel entlang Richtung Matzleinsdorfer Platz.
Oder sagen wir so: Zuerst stehe ich einige Minuten lang fasziniert am oberen Ende der Prinz-Eugen-Straße und betrachte das Panorama des neuen Stadtteils, wo sich einmal Süd- und Ostbahnhof befanden. Es ist, um Harry Potter zu zitieren, der Bahnsteig 9 3/4 für den Übergang des alten, klassischen Wien in das Wien der Zukunft.
Statt auf die Fassade des Südbahnhofs, die ich noch gut in Erinnerung habe – seufz; Abreise an die Kärntner Seen – blicke ich jetzt auf den Erste-Campus der Henke Schreieck Architekten, ein Ensemble tanzender, warm leuchtender Glaskörper, hinter denen sich die gerade entstehenden „Parkapartements am Belvedere“ (nur ein p; keine Ahnung warum) abzeichnen, ein Projekt des italienischen Stararchitekten Renzo Piano. Diese Appartements sind zwar eher am Gleiskörper des Hauptbahnhofs und am Schweizergarten gelegen, aber irgendein Entwickler wird wohl darauf aufmerksam gemacht haben, dass sich das Belvedere im Namen besser verkaufen lässt als das Stellwerk Ost.
Diese Architekturen sind von hoher ästhetischer Qualität. Sie markieren den Übergang des Gründerzeit-Wien in das Wien der Millionärsimmobilien, aber bevor ich diese unaufhaltsame Entwicklung zu beklagen anfange, mache ich mich auf den Weg nach Westen,  den Wiedner Gürtel entlang, einer Stadtachse, die gewiss nicht für den Fußgängerverkehr erfunden wurde, sei’s drum: umso interessanter.
Erste Beobachtung: Der erste Häuserblock am Wiedner Gürtel, innenstadtseitig gelegen, hat bunte Fassaden verpasst bekommen wie die Häuser Tiranas, denen der damalige Bürgermeister Edi Rama zur Gemütsaufhellung farbige Anstriche verordnete. Sieht, ähem, etwas kindisch aus, vor allem im direkten Vergleich zum urbanen Stahl-Glas-Gewitter rund um den Hauptbahnhof auf der anderen Seite der sechs Fahrbahnen.
Zweite Beobachtung: Das Hotel Prinz Eugen auf Nummer 14 mag nicht die schönste Absteige der Welt sein. Die Bar im Erdgeschoss jedoch lohnt einen Abstecher. So unprätentiöse Fifties-Romantik findet man kaum wo in Wien.
Dritte Beobachtung: Ein paar Schritte weiter schwindet aus dem gürtelseitigen Erdgeschoss das Leben. Zugesperrte Bars, Reste von Rotlicht, ein paar Herrschaften, die im „Café Engel (seit 2003)“ Karten spielen, ein Autoradiogeschäft (geschlossen), ein ziemlich großes Lokal für Motorräder, deren Service und Unfallmaschinen (geschlossen).
Am Südtirolerplatz, wo ich die verschlungenen Fahrbahnen der ein- und ausscherenden Favoritenstraße überquere, bewundere ich die mehrere Stockwerke hohen Abbildungen eines Südtiroler Trachtenpärchens an der halbrunden Hausfassade und wundere mich, wieviele Jogger mir entgegenkommen. Brennt es dort vorne? Nein, das ist der Sonnenuntergang. Das schönste Dekor dieses Stücks Wien.

christian.seiler@kurier.at

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