Gehen: So viel Welt auf ein paar hundert Metern Wien. Wow!
Ich gehe durch die Mühlgasse, vierter Bezirk, Freihausviertel, Naschmarktnähe, und ich kann nur staunen, wie viel Welt sich auf ein paar hundert Metern Wien angesammelt hat. Der Spaziergang kann leider erst beginnen, nachdem ich durch den japanischen Supermarkt Ecke Faulmanngasse/Mühlgasse getigert bin, ernsthaft erstaunt, wie gut sortiert das Geschäft und wie groß und interessant sein Sake-Angebot ist – habe ich erwähnt, dass ich von meiner letzten Japanreise das übermächtige Bedürfnis mitgebracht habe, stets mindestens eine gute Flasche Sake im Kühlschrank zu haben?
Mit zwei stoßsicher verpackten Flaschen gehe ich jetzt langsam und vorsichtig stadtauswärts. Ein Hinweis auf die hier domizilierte Bulgarisch-Orthodoxe Kirche, ein Maßschuster, ein farbenfroher Schildermaler, ein japanisches Restaurant, die querende Schleifmühlgasse, Schlagader des gastronomischen Kulturlebens.
Links das beste Kochbuchgeschäft der Stadt, Babette’s – und wenn ihr dort nach dem Rechten seht, vergesst nicht, euch die verschiedenen Pfeffersorten erklären zu lassen, die hier in fabelhafter Qualität im Regal stehen. Rechts dann eines der stadtbekannten schwarzen Löcher, bekannt aus Literatur und Märchenbuch: das Café Anzengruber. Hier kann man tadellos verloren gehen, denn die Anziehungskraft der Alleinunterhalter und Nachtvögel übersteigt das durchschnittliche Bedürfnis, unbeschadet nach Hause zu gehen, und dann ist es schnell einmal, sagen wir es vorsichtig, nach Mitternacht, und bis zum Aufstehen ist es nicht mehr sehr weit, freilich ohne dass ihr bis dahin schlafen gegangen wärt. Wenn ihr wisst, was ich meine, dann macht besser einen Bogen um diesen Ort, jedenfalls wenn euch der nächste Morgen so lieb und wert ist wie mir.
Weiter in dieser engen Gasse, wo bis 1856 der Mühlbach floss, ein künstlicher Seitenarm des Wienflusses. Links nostalgische Mode, rechts ein portugiesisches Lokal, an der Ecke zur Schikanedergasse das legendäre „Beograd“, ein höchst empfehlenswerter Balkangrill mit Livemusik, warmer Küche nach Mitternacht, und nicht der geringste Schnickschnack, gut aufgelegt und innerlich gewärmt marschiere ich weiter und höre aus einem geöffneten Fenster Musik, klar, hier im Ehrbar-Palais befindet sich das Konservatorium, die Konzerte im schönen Ehrbar-Saal sind neben dem Eingang auf einem schreienden Plakat angekündigt, ich erinnere mich an unvergessliche Auftritte des Wiener Jüdischen Chors, und natürlich fallen mir dann auch die anschließenden Mahlzeiten samt Fassbier beim Ubl, Ecke Pressgasse, ein. Der Ubl: ein Wirtshaus, das ohne Übertreibung zu den schönsten Wiens gehört, und gekocht wird 1A.
Rechts, links, geradeaus? Ich entscheide mich dafür, die Mühlgasse bis zum Ende zu gehen und von dort der Schönbrunner Straße bis zur Kettenbrückengasse zu folgen, weil ich jetzt etwas Frivoles mache: Ich hole mir beim Fruth auf Nummer 20 den köstlichsten Happen, der zur Zeit in Wien zu haben ist: Marrons glacés, kandierte Maroni. Nichts ist besser zu einem Glas Sake.
christian.seiler@kurier.at
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