Christian Seilers Gehen: diesmal im 10. Bezirk
Ich gehe quer durch den zehnten Bezirk, aber der Start erfolgt in Simmering. Im düsteren Sonnengeflecht von Geiselbergstraße, Werkstättenweg und Gräßlplatz formiert sich die mächtigste Ost-West-Verbindung zwischen Simmering und Matzleinsdorf, die als einfacher Feldweg schon zu Zeiten des Mittelalters bestand: die Gudrunstraße.
Die Straße unterquert den Gleiskörper der Bahn und macht sich breit für Auto- und Straßenbahnverkehr, aber ich kann über einen Stiegenaufgang („erbaut unter dem Bürgermeister Dr. Karl Lueger 1904-1905. Instandgesetzt nach teilweiser Zerstörung durch Fliegerbomben unter dem Bürgermeister Dr. h.c. Theodor Körner 1947-1948. Wiederhergestellt 1989“. Vom Sprayer „KING“ getaggt neuerdings, und kursorischer Geschichtsunterricht inklusive) auf die höher gelegene Parallelfahrbahn ausweichen, ohne auf Augenhöhe mit dem stetig fließenden Verkehr zu sein.
Später entfalten sich links und rechts altes Wien, neues Wien, ganz neues Wien. Gemeindebauten, türkische Supermärkte, der Bildungscampus des Sonnwendviertels. Arbeiterbezirk, importierte Kulturen, neue Ideen: An manchen Stellen der Straße wirkt dieses Miteinander noch konstruiert, aber es wird zusammenwachsen, so wie in Wien noch immer alle Einflüsse zum „Typisch Wienerischen“ amalgamiert wurden.
Ich gehe an türkischen Einrichtungshäusern vorbei, an ewig langen Gemeindebaufassaden, wo sich rauchende Bewohner von Fenster zu Fenster unterhalten, als wollten sie sich für eine Rolle in einem Mundl-Remake bewerben. Die Neubauten des Sonnwendviertels werfen sich in Pose, und auf der Fassade des Ernst-Kirchweger-Hauses, Ecke Wielandstraße, prangt irgendwie verloren die aufgesprayte Botschaft: A Kiwara is ka Hawara.
Die Fahrbahn wird schmäler. Die Fassaden der Häuser sind schmucklos. Die Gudrunstraße kreuzt jetzt die Favoritenstraße und tangiert den Keplerplatz, ich denke an Willi Resetarits, der in der schönen, weiß verputzten Keplerkirche einmal Ministrant war, dann gehe ich vorbei am wunderschönen Amtshaus für den 10. Bezirk, diesem späthistoristischen Gebäude in Sichtziegelbauweise, mächtig und einladend zugleich, aber an der Ecke Laxenburger Straße werde ich vor ein Rätsel gestellt: Was bedeuten die Buchstabengruppen auf den hohen Fenstern des Amtshauses? NG. TU. AT. ST. BE. Ach so, ich muss die Sache von der anderen Straßenseite aus betrachten, dann ergeben die Buchstaben ein Wort, herzliches Beileid.
Ich gehe weiter, werfe einen Blick auf den Betriebsbahnhof Favoriten und den eindrucksvollen Häuserkomplex daneben, wo Verwaltung und Mitarbeiter untergebracht wurden. Altes Wien, neues Wien. Ein paar Ecken weiter das „Gasthaus Leuthner“, ein Wiener Beisl aus dem Bilderbuch, Mittagsmenü 6,90 Euro. Gleich daneben Plakate für den Auftritt der türkischen Sängerin Seda Sayan im Mozaik Event Center, 10.3.2019.
Die Gudrunstraße macht einen letzten Schlenker. Links der Evangelische Friedhof Matzleinsdorf. Rechts, auf Nummer 196b, eine Baracke, ordentlich vergittert. Ein Schild sagt: „Feuerwerk“. Ich sage: heute nicht mehr.
christian.seiler@kurier.at
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