Kontinent Hinterhäuser

Kontinent Hinterhäuser
Nur ein paar Reiseimpressionen. Aus einem beseelten Klangarchipel im Meer des sommeralltäglichen Salzburger Glanz- und Stargeplänkels. Subjektiv, erlebt und angelesen. Denn keiner ist momentan so beforscht wie Festwochen-Chef Markus Hinterhäuser.
Von Ro Raftl

Ich hab viel Glück gehabt. Mit Menschen, die in mein Leben getreten sind, an mich geglaubt haben und mich kleine Pirouetten drehen ließen", sagt Markus Hinterhäuser, immer noch kein fischglatter Managertyp. "Angst vor dem Glück", nannte sein Freund Walter Schmidinger, "dieser herrlich verrückte", kostbar unersetzliche Schauspieler, sein Erinnerungsbuch. Schmidingers erster Satz: "Wenn ich ins Theater gehe, hoffe ich immer, dass ich etwas sehe, was ich noch nie gesehen habe." Schach. Hinterhäuser, dem nachgesagt wird, niemand sei von seiner Karriere überraschter gewesen als er selbst, hat Schmidingers Hoffnungen eingelöst. Akkurat seit seinem Auftauchen im Zeitfluss, 1993 in Salzburg. Als das Festspiel-Direktorium Gérard Mortier & Hans Landesmann Geld und Raum übrig hatte für die verrückten Ideen, mit denen der junge Pianist Hinterhäuser und der Gesangsstudent Tomas Zierhofer-Kin sämtliche Konventionen und scheinbar in Gold gefasste Marketingstrategien auf den Kopf stellten. Neugier weckten und Jubel ernteten. Der eine leitet das Donaufestival. Der andere tritt am 9. Mai mit seinem ersten Programm als Intendant der Wiener Festwochen an. Und in drei Jahren als Intendant der Salzburger Festspiele. Der 55-jährige Hinterhäuser – kein Sonntagskind, wie Wikipedia irrt –, sondern ein Montagskind vom 30. März 1959, hat das frei fliegende Glück, das sich Wiener gern als Vogerl vorstellen, seit einer ganzen Weile gezähmt. Als Mensch "der bei sich ist", wie ihm eine Salzburgerin attestiert, die insgeheim und platonisch in ihn verliebt war, so lange sie den Arbeitsplatz teilten. Er kann das, Menschen in sich verliebt zu machen. Weil er mit der Kreativität des Künstlers programmiert. Als Musiker mit Komponisten kommuniziert. Als Chef genau weiß, was er will und was er verlangt. Und weil er so vergnügt mit den Augen lächelt, dass man nie genau weiß, ob er einen anstrahlt oder sich ein bissl über einen lustig macht.

Präsent war er lange von Weitem, als beseelte Klanginsel im Meer des sommeralltäglichen Salzburger Glanz- und Stargeplänkels. Bissl näher rückte er am Bosporus, zum Rauchen vor der Tür des schwimmenden Nobelrestaurants in einen Korbstuhl verpflanzt, das Rotweinglas nonchalant auf der Steinmauer postiert. Markus Hinterhäuser, der Mann mit dem Bubengesicht, strubbelig schwarzem Haar, durchscheinend blauen Augen, sparsamen Gesten, leiser Stimme. Feiner Stoff über festem Futter. Als Konzertchef der Salzburger Festspiele für 2011 als Übergangsintendant bestellt, tourte er ein Jahr zuvor mit der Festspielpräsidentin durch die Welt. Von Brasilien bis Japan. Um die Publikumsstrukturen zu erweitern, um Sponsoren zu keilen. Eine der profanen Seiten des Jobs, die sich vervielfacht, je höher einer steigt in der Funktion. Ein straffes Programm. Anstrengend. Ja. Bloß, ohne hektisch nervöse Spuren zu hinterlassen, an diesem Pianisten, der im Süden zur Welt kam, 1959 im italienischen La Spezia, und Klavier zu spielen begann, weil bei seiner Oma ein Flügel herumstand. Sichtlich wieder Glück gehabt. Mit Eltern, die ihn "auf nichts hinerzogen haben. Nur zwanglos, großzügig, klug gefördert, ohne spürbare Ambition dahinter". Eltern, die behutsam zuließen, dass jeder der drei Söhne wird, wer er ist. Die anderen beiden hatten mit Musik nichts im Sinn, nur Markus, der Jüngste. Im Doppelpass mit der Literatur – einzuatmen wie Luft vom Sohn einer italienischen Germanistin und des renommierten österreichischen Romanisten und Übersetzers Hans Hinterhäuser. Haltung muss der Bub nebenbei auch gelernt haben.

Die Tatsache, dass seine Konzertprogramme seit 2007 von Publikum und Presse höchst gelobt, auch künftig nicht zur Intendantenweihe führen würden, sondern zu Alexander Pereira, kommentierte Hinterhäuser (zumindest vor Journalisten) weder mit Tiraden, noch mit gehässigen Aperçus. Bälle spielt er lieber von der Bande an. Aber ja, natürlich gerät er bei Fußball in Feuer – über die Schnelligkeit, die Reaktionssicherheit, die perfekte Choreografie, "wie bei einem Ballett. Bei wirklich großen Champions-League-Spielen gibt es atemberaubende Momente". Doch wir sind am Meer. Also dockt der Programmerfinder an den Kontinent Scelsi an, den er als dritten in seiner Reihe "Kontinente" in Salzburg liebend erforscht hat. Stellt die anheimelnde Vorstellung zwischen Rauch und Rotwein, dass sein Großvater, Kapitän in der Hafenstadt La Spezia, den geheimnisvollen Komponisten Giacinto Scelsi, der in einem nahen Dorf aufwuchs, als kleinen Buben über die Kais laufen gesehen haben könnte. Nebenbei schürt er den Impuls, Scelsis verrätselter Biografie nachzuspüren: In dem kleinen amüsanten Buch des Briten Gabriel Josipovici, der den Kammerdiener eines fiktiven "Signor Pavone" Auskunft über seinen bizarren Herrn und sein Verständnis der Zwölftonmusik geben lässt. Sprung. Zur Konsequenz, mit der Hinterhäuser seinen Neigungen Verbindlichkeit gibt: Unendlichkeit heißt seine Übersetzung des Romans, die 2012 bei Jung & Jung erschienen ist. Ein Schritt zurück in die Erinnerung an den verstorbenen Vater: "Das Klicken seiner Schreibmaschine war immer da." Immer zu hören, auch wenn der Zehnjährige stundenlang Klavier geübt hat, bei offenen Fenstern, weil ihm der Gedanke gefiel, dass draußen Vorbeigehende aufmerken könnten. Wenn der 16-Jährige mit dem Kassettenrekorder am Boden lag, und Beethovens zweitem Satz Am Bach aus der 6. Sinfonie, der Pastorale lauschte, Chopins Klavierkonzert Nr. 1 oder Gulda, Gulda und wieder Gulda. Leonard Cohen, Bob Dylan. Und Stockhausen. Ja. Zehnjährig, noch in Bonn, prägend fasziniert von der Raserei, zu der Musik Menschen bringen kann: Der Vater seines besten Schulfreunds hatte bei den Proben für ein Stockhausen-Konzert seine Geige zertrümmert und den Dirigenten bedroht. Er war der Konzertmeister und provozierte einen Mega-Skandal.

Drei Jahre später, eines Abends allein zuhause, rief das Kind also einfach bei Stockhausen an, und als der tatsächlich abhob, war er so verblüfft, dass er ihn nur verlegen fragte, ob er ihm die Zwölftonmusik erklären könne. Später im Salzburger Zeitfluss hat er ihn noch einmal angerufen und in der Kollegienkirche seine Hymnen vor einem offenen, stark verjüngten Publikum realisiert. Demutsvoll als Arbeiter in strenger Zucht am Klavier. War wohl Stockhausen, der Hinterhäusers rühmliche Besessenheit ausgelöst hat, für die Kunst ein Klima der Reflexion und Auseinandersetzung herzustellen. Neue Musik schlüssig und intelligent mit klassischer zu verknüpfen. Zum Angebot der Entdeckung Scelis also Schumann-Szenen. Und extra danke! Für Martin Grubinger, den Weltpercussionisten, den er in Wolfgang Rihms Tutuguri mit Anna Netrebko in Gounods Roméo et Juliette kontrastierte. Also noch einmal auf die Stufen zum Festspielhaus, im brandenden Trubel 2011. Markus Hinterhäuser. Froh im Einklang mit Komponist Luigi Nonos fragiler Innerlichkeit: "Die Stille. Hören ist sehr schwierig. Sehr schwierig in der Stille die Anderen zu hören ..." Die Glückwünsche lässt er fast verlegen auf sich regnen. Alle, die hören wollten, hat er mit Nonos Oper Prometeo. La Tragedia dell’ascolto (die Tragödie des Hörens), in der Kollegienkirche glücklich gemacht. War sein fünfter Kontinent, der letzte in der Reihe Kontinente, jeder mit einem anderen Komponisten der Moderne im Zentrum. Da jubelten auch jene, die noch nicht mit den Neugierigen Schlange gestanden waren, als er 1993 mit Prometeo, flankiert von zehn weiteren Nono-Konzerten, das Zeitfluss-Festival zum Kultprogramm innerhalb des Festspiels erhob. "Unaufgeregt, leise, sachorientiert, in seinem "ruhigen verbindlichen Führungs- und Kommunikationsstil, der allseits geschätzt wird", wie nach seinen aktuellen Karrieresprüngen mit zunehmender Begeisterung rundum festgestellt wird. Wie seine Haltung zur Macht hinterfragt – ein Wort, das er auf sich selbst bezogen kaum in den Mund nähme: "Das Machtgefühl, das viele sicher haben, ist bei mir nicht so rasend entwickelt", bedeutete er Volker Hagedorn von der ZEIT bei einem idyllischen Spaziergang durch Salzburg. "Macht oder das, was man so nennt, beinhaltet Entscheidungen, in denen der eine zum Zug kommt und der andere nicht. Das ist so. In Salzburg wird dem Festspielintendanten sicher ein übertriebener gesellschaftlicher Stellenwert eingeräumt." Anderswo erklärte er: "Aber ich werde auch künftighin sicher nicht im weißen Dinnerjacket antanzen." Wär auch nicht vorstellbar bei einem, der die gedeckten Farben und den kostspielig lässigen, immer leicht vernudelt wirkenden Stil von Ann Demeulemeester & Co. schätzt: "Kleidung gehört zu den Dingen, in denen man sich wiederfinden muss. Vor einem roten Hemd würde ich sofort kapitulieren." Farbe hat für ihn mit Material zu tun. Auch wenn er bei aller visuellen Kraft sein Gehör für ausgeprägter hält."Viel Glück gehabt." Er bleibt dabei. Unter nachdenklichem Lächeln: "Ich selber hab wahrscheinlich viel weniger getan. Nur den Menschen, die mir begegnet sind, eine innere Disposition angeboten, von der ich wusste, dass ich sie auch erfüllen muss. Autorität entsteht, wenn man etwas kann und etwas weiß und etwas bewältigt. Nicht durch Tricks und Mechanismen. Ich glaub auch nicht, dass man brüllenden Menschen besser zuhört", blockt er die Frage ab, wie sich ein fairer Chef gewaltfrei bei seinen Mitarbeitern durchsetzt.

"Als ich Hans Landesmann das erste Mal getroffen hab, 1991, da stand ein außerordentlich feiner, mit außerordentlich feinem Humor gesegneter Mensch vor mir, begnadet mit einem hohen Maß an intuitiver Intelligenz, der fast idealtypisch eine wirkliche Passion für alles Künstlerische – und das Finanzielle – in sich vereinigt hat. Das muss man einmal haben. Ja, ich hab viel gelernt von Landesmann." Er schmunzelt, freut sich fast zärtlich. Hat ihm zum anderen sein erstes eigenes Klavier zu verdanken, Landesmanns Bösendorfer geerbt. Besaß in seinen Wanderjahren, als Kurzzeit-Student an der Wiener Musikakademie und am Salzburger Mozarteum, während der Meisterkurse bei Elisabeth Leonskaja und Oleg Maisenberg, auch als Liedbegleiter von Brigitte Fassbaender rund um die Welt nie ein eigenes. Sagt, sein Gefühl für Besitz sei "nur spärlich entwickelt. Nicht zu viel zu besitzen hat sehr viel mit Freiheit zu tun". Daran hat sich nichts geändert, als er sich mit Maria Wiesmüller, der Tochter des Bankiers und früheren Festivalpräsidenten am Mönchsberg häuslich niederließ. Die anmutig Dunkelblonde mit den klaren Zügen jobbte als Studentin im Festspielbüro, als ihn der Zeitfluss dorthin spülte: "Ich war einmal und noch einmal und wieder im Festspielbüro." Jakob, der Sohn mit Vaters dunklen Haaren, wird bald neun. Die Mutter arbeitet längst bei den Osterfestspielen, geheiratet haben sie nicht. Auch wenn er zum Entzücken von Verehrerinnen bei Doris Glasers Ö1-Gedanken Rilke zitiert: "Liebe ist die Freiheit, die man einem anderen lässt", auch wenn er als Festwochen-Chef sehr oft in Wien ist, "weil man den Ort spüren muss, für den man etwas kreiert", weiß er, wo er hingehört. Nach Salzburg, demnächst ganz und gar. Das ist es. "Das Glück und das Wissen, dass man nicht viel mehr haben kann als die innere Disposition, klar zu sehen, worum es geht." Aktuell um die Wiener Festwochen. Das Publikum wird strömen, soviel ist schon vorher klar. Ratzfatz ausverkauft die 3-D-Konzertreihe der deutschen Elektropioniere Kraftwerk, genauso Michael Hanekes Madrider Inszenierung von Cosí fan tutte, noch für Mortier: "Ein Wunder an Präzision und Interpretation, das nach Wien gehört", freut sich der neue Intendant. Preist Bluthaus die Uraufführung der (überarbeiteten) Oper von Georg Friedrich Haas nach dem Libretto von Händl Klaus als "fantastisches Stück Musiktheater, als großes Drama, als Krimi, der häufig an Hitchcock oder an Kubricks Shining denken lässt. Und fragt mit Romeo Castellucci zu Glucks Barockwerk Orfeo ed Euridice, wer denn in entmystifizierter Zeit die Rolle des Sängers einnehmen könne, um die Geliebte dem Schattenreich zu entreißen? Zog alle Fäden, um Castelluccis Antwort "unsere Intensivstationen" wahrhaftig darstellen zu können: Eine junge Wachkoma-Patientin ist Euridike. Ließ sich, dem Primararzt dankbar, lange in Lainz erschüttern. Von den Eltern und von Bildern, die hinter der Netzhaut brennend bleiben.Wird sich zwei Mal ans Klavier setzen, um sein Herz in aller Tiefe bloßzulegen. Im monolithischen Werk der russischen Komponistin Galina Ustwolskaja, der er als einem seiner frühen Idole eine Hommage widmet: "Tiefschwarz, keine Sonnenscheinmusik." Und als Begleiter von Matthias Goerne bei Schuberts Winterreise zu 24 tänzerisch leichten, eleganten, subtil humorvollen Animationsfilmen des südafrikanischen Weltstars William Kentridge. Hinterhäuser hat ihn besucht in Johannesburg, ist einem uneitlen, hochpolitisch denkenden, völlig allürenfreien Mann begegnet, dem er beim "steinzeitlichen Filmemachen" zuschauen durfte: "Wie er zeichnet, die Zeichnung abfilmt, das Original ausradiert, überzeichnet, neu abfilmt, und wieder ausradiert. Denn Kentridge interessiert das mehrdeutig Ungewisse, die trügerische Wirrnis verblassender Erinnerungen. Sein Blick auf die Winterreise wird überraschen", verspricht der Pianist. Wie er sie spielen wird, kann er noch nicht sagen. "Ist ja ein Atmen mit dem Sänger. Man sucht und findet einen gemeinsamen Ton." Lange hat er sich intensiv mit dem wunderbaren Gleichklang von Schubert und Müller beschäftigt, "in dem sich zwei Welten berühren, ohne dass eine Welt Schaden nimmt. Eine Landschaft, in der ich mich aufhalten möchte, in der ich mich geborgen fühle."

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