Familiensache: Der Wiener Prater

Familiensache: Der Wiener Prater
Mehr als einer der austauschbaren Vergnügungsparks zwischen L.A., Dubai und Tokio: Der Prater hat Charakter. Das liegt nicht zuletzt an den Familien, die die Attraktionen betreiben und oft seit Generationen im Prater leben. Eine Spurensuche.
Familiensache: Der Wiener Prater

"Nicole lächelt wieder – da schlägt unser Herz gleich schneller und schneller …“  Der Mann an der Kassa des „Tagada“, einer Art Drehscheibe mit Sitzbank, bedient sein Schaltpult, lässt die Scheibe hüpfen. Seine jugendlichen Fahrgäste versuchen, sich auf den Beinen zu halten, Nicole wischt sich eine Haarsträhne aus der Stirn, sie strahlt übers ganze Gesicht. „Mein Bruder Thomas ist der beste Rekommandeur im Prater“, erklärt  Stefan Sittler-Koidl und fügt augenzwinkernd hinzu: „Außer mir.“ – „Das hab ich g’hört“, sagt der Mann am Mikro lachend, „kannst gleich übernehmen.“
 

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Rekommandeure sind so etwas wie die Seele des Praters, bringen eine persönliche Note in den automatisierten Ablauf der Attraktionen. Und nicht selten sind es die Besitzer selbst, die an der Kassa und am Mikro sitzen. „Wir haben das von unserem Vater gelernt. Und ja, mir macht das wirklich Spaß“, sagt Thomas Sittler, während er Tickets verkauft und die Namen der nächsten Gäste notiert. Viel Zeit wird er dafür in den nächsten Wochen nicht haben. Seine mit Spannung erwartete 3D-Geisterbahn steht kurz vor der Eröffnung. Auf der 150 Meter langen Bahn bekommt man über VR-Brillen Besuch von Horror-Clowns und anderen Schreckgespenstern. „Das wird ein unglaubliches Erlebnis“, ist auch Stefan Sittler-Koidl überzeugt. Er ist der aktuelle Präsident des Praterverbandes, Investitionen in Millionenhöhe sind für ihn ein unverzichtbarer Schritt in die richtige Richtung. „Natürlich müssen wir die alten Attraktionen erhalten, sie machen den Charme des Praters aus, machen ihn zu etwas Einzigartigem. Aber ohne neue Technologien und zündende Ideen ist man heute schnell nicht mehr konkurrenzfähig. Wir wollen modern sein UND familienfreundlich.“

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Eine zündende Idee hatte schon vor 41 Jahren Elisabeth , die Tochter des legendären Schweizerhaus-Wirts Karl Kolarik. Obwohl damals auch ein kleines Missgeschick eine Rolle spielte, wie man einräumen muss. Sie wollte von einem englischen Ballonmacher eine Luftburg für ihre Tochter anfertigen lassen, damit die zuhause darauf springen und sich austoben kann.  Nach ihren Plänen. Die Engländer hielten sich auch brav dran – nur dass sie aus den angegebenen Zentimetern britische Zoll machten. Die Burg wurde also 2,54 mal so groß wie gedacht und konnte nur im Freien aufgestellt werden. 

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Inzwischen hat Elisabeth Kolarik längst auch ein eigenes Restaurant im Prater, das nicht nur „Luftburg“ heißt, sondern gleich mehrere Varianten des Originals zur Verfügung stellt. „Kinder wollen sich bewegen“, sagt Elisabeth Kolarik, „ein ausgedehnter Gasthausbesuch ist für Kinder doch schrecklich langweilig.“ Nachdem ihre Stelzen nicht minder knusprig sind wie die im Schweizerhaus und sie natürlich auch das „Familienbier“ Budweiser ausschenkt, sitzen viele Erwachsene gern ein bissl länger. Apropos Familienbier: Wer sind eigentlich die „Buben“ im legendären Budweiser Import-Logo „Kolarik & Buben“? Sie hat doch nur einen Bruder und eine Schwester, die eben das Schweizerhaus führen. Elisabeth Kolarik lacht lauthals. „Die Buben? Damit waren nicht die Söhne gemeint – das war der frühere Partner meines Vaters, Jaromir Buben.“ Schön, das wir das auch endlich geklärt hätten ... „Jedenfalls“, fährt die Erfinderin und Gasthausbesitzerin fort,  „still sitzen, warten, ruhig sein – das konnte ich auch nie. Deshalb wollte ich, dass die Kinder bei mir nach Herzenslust herumtoben können.“ So wie sie selbst, als sie noch ein Kind war. „Wir waren viel unterwegs. Gleich nach der Schule zu meiner besten Freundin Maria. Ihre Eltern hatten das Pony-Karussell, und wir durften dort auch ausreiten. Dann eine Runde mit der Liliputbahn, in die große Geisterbahn von der Frau Molzer – es war eine unbeschwerte, aufregende, beinahe magische Welt für mich und meine Freunde.“ Das klingt nach einem dörflichen Idyll mitten in der Stadt. „Ein wenig, ja“, sagt Elisabeth Kolarik, „ungefähr 25 Familien leben und arbeiten hier. Man kennt die meisten seit der Kindheit …“

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Aus einer dieser Familien ist auch Matthias Grumbir, der Chef des „Grand Autodrom“ gleich beim Eingang. Leichtsinnig lasse ich mich auf eine Verfolgungsjagd mit seinen Autoscootern ein. Während er mir immer wieder entwischt, rammt er mich quasi nach Belieben. Gegen diesen Mann kann man nicht gewinnen. „Ich bin als Kind und Jugendlicher schon ziemlich viel gefahren“, sagt Matthias Grumbir lachend. Und erinnert sich daran, oft Besuch von Schulfreunden bekommen zu haben. „Das war natürlich schon was Besonderes – ein eigenes Autodrom.“ Vor allem, weil so ein Autodrom schon immer einer der beliebtesten Jugend-Treffs auf Volksfesten, Kirtagen, Kirmessen und Dulten war. Und im Gegensatz zu manchem Hightech-Fahrgeschäft nicht so schnell aus der Mode kommt.

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Das trifft auch auf die Attraktion seiner  Nachbarin Dr. Dorothea Lamac zu, die wahrscheinlich beeindruckendste im ganzen Prater. Auf jeden Fall die berühmteste. Gemeinsam mit ihrem Cousin Peter Petritsch ist die Rechtsanwältin stolze Besitzerin des  Riesenrades. „Das Riesenrad ist mehr als ein Fahrgeschäft. Es ist ein architektonisches Wunderwerk aus Stahl“, erklärt sie. Sie kommt nicht aus einer der alten Praterfamilien, ihr Großvater war ebenfalls Rechtsanwalt, kaufte das Wiener Wahrzeichen Ende der 50er-Jahre. Sie ist daher auch nicht, wie etwa Elisabeth Kolarik, die noch heute jede neue High-Speed-Attraktion ausprobiert, mit den waghalsigen Vergnügungen des Praters aufgewachsen.  „Mit 14 bin ich das erste Mal Geisterbahn gefahren. Es war schrecklich. Ich hab die Augen erst aufgemacht, als ich merkte, dass es wieder hell ist“, erinnert sich die Juristin.    „Aber die Grottenbahn hab ich geliebt!“ Und auch wenn sie die   Abenteuerlust der anderen „Dorfbewohner“ nicht in vollem Ausmaß teilt, so teilt Dr. Dorothea Lamac mit ihnen doch die Liebe zum Prater. Und hat aufregende Pläne: „Vielleicht gelingt es uns ja, das alte Venedig in Wien wieder aufzubauen, mit  den Kanälen und den Plätzen und Brücken  – das wär doch was!  Wir sind da dran ...“

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Zurück am , dem Hauptplatz des Prater-Dorfes. Unterm „Blumenrad“ hat Karin Sittler-Koidl, die Ehefrau von Praterverbands-Präsident Stefan, die „The Bar“ in eine überraschend coole Bio-Oase verwandelt. Bier, Kaffee, Wein – alles ökologisch sauber, das Brot natürlich auch, Schnittlauch und Gewürze kommen aus dem eigenen Garten. „Das ist mir auch wirklich ein Anliegen“, sagt sie. „Immerhin geht es um unsere Zukunft – und vor allem auch die unserer Kinder!“ Vier haben sie und ihr Mann, echte Praterkinder, die beiden jüngsten sind sogar direkt hier geboren, im Haus der Familie hinter der Volare-Achterbahn, wo Hühner, Katzen und Hunde mitten im Vergnügungspark für ein beinahe perfektes Idyll sorgen. Dass Karin und Stefan überhaupt Kinder haben, ist an sich ein kleines Wunder. Oder eben eine Geschichte, wie sie nur der Prater schreibt.

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Karins Familie gehörte der „Breakdance“ am Calafatti-Platz, direkt gegenüber von Sittlers „Tagada“. Jetzt ist es aber so, dass auch das friedlichste Dorf nur ein bestimmtes Ausmaß an Rivalität verträgt. „Tagada“ gegen „Breakdance“, das ist in etwa so ernsthaft wie Beatles gegen Stones, Bay City Rollers gegen Sweet, Philip Roth gegen John Updike. Die Familien waren sich also nicht nur nicht grün, sie hatten einander ungefähr so lieb wie die Montagues und die Capulets. Weil die Liebe aber, im Gegensatz zu Shakespeare, manchmal einfach siegen muss,  konnten sich Romeo & Julia in diesem Fall durchsetzen. Gegen alle familiären Vorbehalte. Und genau so sollte es auch sein ...

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Der Nachmittag zwinkert inzwischen schon ein wenig Richtung Abend, der Calafatti-Platz füllt sich immer mehr, etliche Kids pendeln zwischen „Tagada“ und „Breakdance“ hin und her. Die wichtigen Sachen halt, die das Leben so für uns bereithält. Wir sehen Daniel, Manuel und Philipp wieder, drei Frühzwanziger, die wir zuvor bei einem Boxball, also dem nüchternen Nachfolger des klassischen Wiener „Watschenmannes“ getroffen haben.

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Wenn Daniel zuhaut, macht der Zeiger drei volle Runden um dann erst wieder bei „Superman“ stehen zu bleiben. Die Frage, was passieren würde, wenn er ein echtes Gesicht trifft, beschäftigt mich. „Keine Sorge, er würde nie einen Menschen schlagen“, sagt mir Manuel hinter vorgehaltener Hand. Das beruhigt. Daniel lächelt mich freundlich an. Ich winke zurück.

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Um den Tagada hat sich eine Traube von Jugendlichen versammelt. Ein paar Jungs kramen in ihren tief sitzenden Jeans nach Kleingeld. Breitbeinig wie Seemänner gehen sie Richtung Kassa, bereit jedem noch so heimtückischen Bocksprung, den Thomas Sittler die Scheibe machen lässt,  ohne anzuhalten standzuhalten. Auf der Drehscheibe genießt ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen gerade seine fünf Minuten Ruhm.  Sie steht nicht nur während der gesamten Fahrt, sie tanzt auch noch. Und vollführt atemberaubende Sprünge.

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„Christina wagt ein Tänzchen“, hören wir Thomas’ Stimme über die harten Techno-Beats der Soundanlage. „Und jaaa, was für ein Sprung. Das ist wirklich die beste Christina, die es je gab. Einen Riesenapplaus bitte für Christina.  Und Danke auch Simon, Sascha, Susi, Emir und Sheylan – ihr seid alle super!“

Und hier geht's zum Riesenrad-Gewinnspiel!

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