Fahrgefühl

Fahrgefühl
Für viele sind sie nur ein notwendiges Übel auf dem Weg zum ersehnten Führerschein. In Wahrheit sind sie echte Helden des Alltags. Ihr Beruf verlangt Können, Gelassenheit – und Mut. Ein Tag mit den Lehrern einer Wiener Fahrschule.

Rrrrums. „Wieso haust du die Gänge eigentlich immer mit Gewalt rein?“, fragt der Fahrlehrer. „Das hab ich von ,The Fast and the Furious’“, sagt der junge Mann am Steuer des kleinen blauen Fahrschulautos. Er sagt es ohne jede Art von Unterton. Treuherzig. Der junge Mann ist 15 1/2. Es ist seine zweite Fahrstunde. Sein Fahrlehrer ist Robert Hinner. Er macht den Job seit 35 Jahren, hat schon Alexander Goebel das Motorrad- und Herrn Gürtler das Busfahren beigebracht. Robert Hinner grinst. Vielleicht nicht treuherzig, aber ohne jede Art von Sarkasmus. „Fahr da vorn einmal rechts ran bitte“, sagt er. Es folgt ein kleiner Exkurs über die Position der Gänge und den erforderlichen Kraftaufwand, um den Schalthebel genau dort hin zu bekommen, wo man ihn haben will. Und nicht gerade die Hauptrolle in einem US-Actionfilm über illegale Straßenrennen spielt. „Alles klar?“ – „Ja.“ – „Na, dann fahrma wieder.“

Autofahren lernen ist nicht ganz ohne. In Wien gilt das vielleicht noch mehr als auf dem Land oder in kleineren, etwas beschaulicheren Städten. Man muss ja nicht nur, quasi von einem Tag auf den anderen, eine Maschine kontrollieren, die mehr Kraft hat als wir uns eigentlich vorstellen können – sondern auch damit zurecht kommen, dass dieses Freiheit verheißende Ding, das wir steuern wollen, die Maße eines Motorboots hat und 1.000 Kilo schwer ist. Das hat was, um 15 Uhr nachmittags, am Hernalser Gürtel.

„Da muss man durch“, sagt Robert Hinner. Die Fahrlehrer haben zwar vor dem Beifahrersitz ein eigenes Set Pedale – Kupplung, Bremse, Gas – und können so, wenn’s wirklich brenzlig wird, rechtzeitig eingreifen. Im Normalfall tun sie das aber so selten wie möglich. „Es bringt ja nichts, wenn ich bei jedem Anfahren mithelf. Dann verlässt sich der Schüler drauf – er muss aber selber das Gefühl für die richtige Dosierung kriegen“, erklärt Rinner. Das heißt dann oft: Anfahren – einige Meter vor sich hin ruckeln – abwürgen. „Ruhig bleiben, kein Stress. Anstarten und noch einmal“, kommt es dann unaufgeregt von der Beifahrerseite. Und wieder dasselbe. Anfahren – abwürgen. „Langsam kommen lassen. Zwischen 1.000 und 1.500 Touren.“ Am Vormittag hat uns eine andere Schülerin gefühlte 50-mal an dieser Übung teilhaben lassen. Einmal hoppelten wir elegant aus einer Nebenstraße bis auf die mittig liegenden Straßenbahnschienen. Da wird der Blick fast jedes Fahrschülers leicht panisch. Meiner auch. Der Fahrlehrer bleibt ruhig. „Anstarten. Ein bissl über 1.000 Touren. Langsam kommen lassen.“ Die sonore Stimme vom Beifahrersitz ist da eine echte Rettungsboje. Wir sind weg, bevor die Bim kommt.

„Wennst hektisch wirst, hast schon verloren“, sagt der Fahrlehrer. Fahren Frauen anders als Männer? „Geh, Blödsinn“, Robert Hinner schüttelt den Kopf. „Das kommt aus einer anderen Zeit. Vor 50 Jahren vielleicht, als es ein Auto in der Familie gegeben hat, des heilig war und nur von IHM gefahren werden durfte. Und da war’s dann eine Frage der Praxis, der Sicherheit. Aber heut? Mir sind in meiner Berufszeit keine Unterschiede aufgefallen.

“Die Unterschiede sind eher individueller Natur. Manche Schüler, wie den jungen Fast-and-Furious-Fan, muss Rinner ein wenig bremsen, manche gehören aufgebaut. So wie der Maturant, den ich zu mittag im Wagen eines anderen Fahrlehrers begleite. Er hat mehr als die Hälfte der gerade einmal 13 vom Staat vorgeschriebenen Praxisstunden hinter sich („Ein Wahnsinn“, sagt Hinner zu dieser Regelung). Der Fahrlehrer erklärt seinem Schüler, dass die Prüfer auch seine Orientierungsfähigkeit im Straßenverkehr testen werden, und keine detaillierte Strecke vorgeben. „Die nächstmögliche Straße rechts“, heißt es dann. An der nächsten Kreuzung winken dem jungen Mann ungefähr 1.000 Verbots-, Hinweis- und Gefahrenschilder zu, rufen „Schau mich an!“ – „Nein mich!“ – „Nein, ich bin wichtig!“. Schließlich stehen wir recht malerisch in einer Straßenbahnstation, wo ein paar der Wartenden aus ihrem meditativen Stand-by-Modus erwachen und neugierig durch unsere Seitenfenster schauen. „Da darf ich nicht fahren, glaub ich“, sagt der Maturant. „Richtig“, sagt der Fahrlehrer. Und: „Was machma jetzt?“ – „Reversieren?“ – „Richtig. Nur mit der Ruhe, ich helf dir schon.“

Als der Fahrlehrer das nächste Mal „da vorn dann rechts“ sagt, reißt der Maturant das Steuer gut 15 Meter zu früh herum, ich sehe einen an einem Verkehrsschild befestigten Mistkübel, dessen Boden übermütige Kids in der vergangenen Nacht aufgeklappt haben, so dass sein bunter Inhalt überall verstreut herumliegt, auf uns zurasen und zieh den Kopf ein. Wir erreichen den Mistkübel nicht, da ein unverhältnismäßig hoher Bordstein unsere Fahrt abrupt stoppt. Dafür ist der rechte Vorderreifen platt. Und die Felge im Eimer. „Warum machst du das?“, fragt der Fahrlehrer mit bewundernswerter Ruhe. „Ich weiß nicht“, sagt der Maturant. Mit gewechselten Reifen – „Das muss er eh auch lernen.“ – geht’s weiter, aber die Nerven des Schülers liegen bloß. Wir stehen mehr als wir fahren, auf Nebenfahrbahnen, Hauptstraßen, Kreuzungen, überall würgt der arme Kerl den Motor ab. „Wie viel Abstand müssen wir zu dem Auto rechts halten?“, fragt ihn dann der Fahrlehrer. Die einfachen Übungen, die bekommen die Schüler von Anfang an vermittelt. „Eineinhalb Meter“, presst der Maturant hervor. „Genau. Und da vorn, hinter dem Auto an der Kreuzung?“ – „Einen Meter. Aber das ist ein Lieferwagen, da kann ich nicht vorbeisehen – also bleib ich lieber früher stehen.“ – „Richtig.“ So geht’s weiter, und irgendwann geht auch das Fahren wieder besser, wir kommen wohlbehalten in der Fahrschule an.

„Natürlich kann immer was passieren“, sagt Robert Hinner am Abend zu mir. „Aber nix wirklich Schlimmes, da passen wir schon auf.“ Hat er in den 35 Jahren jemals Angst gehabt? „Nie“, sagt er ohne zu zögern und nippt an seinem Kaffee. Es war ein langer Tag, nach fünf Fahrschülern leitete er am Abend noch einen Theoriekurs: Gefahren- und Unfallvermeidung. „Denkt’s nie einfach: Des geht sich schon aus. Traut’s euch, stehen zu bleiben“, gab er den Schülern zum Abschied mit. Die Jungs und das hübsche Mädel mit dem im Nofretetelook gestylten Kopftuch lachten. „Im Praxisunterricht sind s’ dann meistens eh weniger mutig. Zum Glück“, sagt er zwinkernd. „Und ich muss jetzt heim. Hab noch eine ziemliche Strecke. Ganz ohne Reden, ganz ohne Radio. Ich fahr gern Auto.“ Eine Frage noch: Wie schafft er es, an so einem Tag diese unglaubliche Ruhe zu bewahren. „Hm, das ist eine Grundvoraussetzung, würd ich sagen. Weil schreien bringt gar nichts.“

Schon klar, und der fünfte Fahrschüler des Tages kann auch nichts dafür, dass er die gleichen Fehler macht wie die vier anderen vor ihm, dass er die gleichen Ratschläge, die ein Fahrlehrer zuvor schon 65-mal gegeben hat, wieder nicht befolgt. Er kann’s halt einfach noch nicht. Aber mir würde einfach der Kragen platzen, so unfair das auch ist. „Dann wäre Fahrlehrer für Sie der falsche Beruf“, sagt Robert Hinner und schüttelt mir zum Abschied die Hand.

Glück für alle Fahrschüler, dass es Männer und Frauen wie ihn gibt, würd ich sagen.

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