Die Angst vor dem Wasser

Obwohl ich tadellos ohne Flügerln schwimmen konnte, hatte ich früher panische Angst vor tiefem Wasser. Vor dem ersten Freibadbesuch mit der Schule konnte ich nächtelang nicht schlafen, doch im Freibad gab es Yasim, den Bademeisterassistenten. Er sprang mitsamt seinen Kleidern kopfüber ins Becken, bewegte sich wie ein Delfin durch die Fluten, kletterte heraus und erklärte uns mit lustigem Akzent: keine Sorge. Passiert was, bin ich da. Als Kinder glaubten wir, Yasim könne bis zum Meeresgrund tauchen, tagelang die Luft anhalten und sei durch das gesamte Mittelmeer geschwommen, um nach Österreich zu kommen. Wenn es um das Thema Arbeitserlaubnis für Asylwerbende geht, muss ich immer an Yasim denken und an die Angst, die viele Menschen umtreibt, die unsere Politiker mutlos macht: Die Angst, dass irgendjemand irgendetwas verlieren könnte, wenn wir denen, die gar nichts haben, erlauben, selbst dafür zu arbeiten, dass es ihnen etwas besser geht. Yasim war in seiner Heimat übrigens nicht Bademeister, sondern Journalist. Und er zog sich im Wasser nie das Leiberl aus, da er uns Kindern keine Angst machten wollte: Sein Oberkörper erzählte die Schauergeschichte, wie man versucht hatte, ihn zum Schweigen zu bringen. Yasim nahm niemandem die Arbeit weg, vielmehr unterstützte er unsern kniemaroden Bademeister, für einen Lohn in der Höhe unseres Taschengelds. Angst sollten wir vor etwas anderem haben: Fast alle Kulturen kennen Sagen darüber, wie die Menschen bestraft werden, wenn sie das Gastrecht missachten; die alten Griechen zum Beispiel glaubten, die Götter hätten die Sintflut über die Menschheit geschickt, weil sie Schutzsuchende schlecht behandelt habe. Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Wasser, und auch nicht vor der Sintflut, solange wir Menschen wie Yasim ermöglichen, uns im Notfall herauszuretten.

Kommentare