Nikolaus

Als mein Bruderherz und ich klein waren, verkleidete sich der Dorfpfarrer am 6. 12. als Nikolaus und zog von Haus zu Haus. Beim Niederknien auf kalten Kirchenböden hat er sich allerdings die Gelenke ruiniert: Schleimbeutel, Menisken, Bänder, alles kaputt, und da ihm die Kinder auf den Schoß springen wollten, wie sie es aus amerikanischen Filmen kennen, stellte er seine Hausbesuche ein. Mein Bruder, der als Stöpsel der größte Fan des Nikolaus gewesen war, war bestürzt. Er beschloss: Wenn die Alten die Traditionen nicht fortführten, läge es an den Jungen, sie zu pflegen. Mein Bruderherz besorgte sich also ein Nikolaus-Kostüm, schnallte einen weißen Rauschebart um, polsterte sich den Wanst mit einem Daunenkissen und zog los, Kinderherzen zu erfreuen. Im ersten Haus, das er besuchte, wohnte eine gerade zugezogene Berliner Familie, die von der Tradition noch nie gehört hatte. Die Töchter des Hauses waren begeistert. Der sechsjährige Sohn jedoch hatte soeben das Datum gelernt. In seiner Welt kam der Weihnachtsmann am 24., nicht am 6., und nachdem er diese Woche drei Mal „Kevin – Allein zu Haus“ geschaut hatte, fürchtete er, mein verkleideter Bruder sei ein Einbrecher, der das Haus auskundschaftete. Der Kleine lief also ins Obergeschoß, holte seine Suftgun, und kaum, dass das Bruderherz das Haus verlassen hatte, traf ihn eine Kugel. Überrascht von der Attacke lief er erschrocken los und wurde von dem wütenden Sechsjährigen, der es gar nicht lustig fand, so kurz nach dem Umzug schon den ersten Feind vor der Tür zu haben, durch die Straße gejagt. Daraufhin beschloss mein Bruderherz, lieber eine andere Tradition aufleben zu lassen; sich am 5.12. als Krampus zu verkleiden, und den Kindern einen Schreck einzujagen. Das Fazit meines 20-jährigen Bruders: Die Jugend von heute hat keine Geschenke verdient.

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